FORVM, No. 244
April
1974

Schwachsinn von Staats wegen

Aus einem österreichischen Lesebuch für Hauptschüler

1 Echte Autoritäten

Die österreichische Gewerbeordnung verpflichtet Lehrlinge unter anderem zur Folgsamkeit, Treue, Verschwiegenheit und zu anständigem Betragen. Schon den Hauptschülern wird das in dem Schulbuch „Lebenskunde“, Jugend und Volk 1972 (18. Auflage 1973/74) [1] folgendermaßen schmackhaft gemacht: „Folgsamkeit, Treue, Verschwiegenheit, anständiges Verhalten, fleißige Mitarbeit, all das kann mit gutem Recht vom jungen Menschen verlangt werden; es ist sein Beitrag zu der so wichtigen Beziehung zwischen dem Untergebenen und dem Vorgesetzten“ (S. 85). Der Lehrling wird mit einem solchen Verhalten zwar Ansehen beim Unternehmer, aber kaum eine Verbesserung seiner eigenen Lage erreichen. „Für den Meister und Lehrer ist es eine Erfüllung seiner Lebensaufgabe, sein Wissen und Können weiterzugeben, vor allem aber die Erfolge seiner Schüler zu sehen“ (S. 85). Und: „Aus diesen sehr sachlichen gegenseitigen Leistungen kann eine beglückende, das‘Leben beider Partner bereichernde Beziehung entstehen“ (S. 85).

Der Lohnabhängige soll auch nicht darüber grübeln, warum gerade er unten ist und sich von den Oberen etwas diktieren lassen muß: „Der Lehrer, Meister, Geselle oder Vorarbeiter, der Vorgesetzte im Handel oder im Büro, sie alle haben echte Autorität für ihre Untergebenen. Damit sich die Arbeit eines Teams sinnvoll abwickeln kann, muß einer da sein, der sie einteilt nach den Kräften jedes einzelnen, einer der die Arbeit organisiert. Er trägt viel Verantwortung, in manchen Berufen Verantwortung für hohe materielle Werte oder gar für Menschenleben. Er muß damit rechnen können, daß seine Autorität bedingungslos anerkannt wird“ (5. 85). Eine Hierarchie muß es geben. Warum? Hauptschüler dürfen solche Fragen nicht stellen. Sie werden später sowieso nur subalterne Tätigkeiten ausüben.

Im Kapitel über Vorgesetzte wird der Lehrling nur als Träger von Pflichten betrachtet. Seine Rechte werden mit keinem Wort erwähnt. Es scheint, als ob es keinen Unterschied zwischen Pflichten und Rechten gäbe. Wenn der Lehrling gewissenhaft seinen Pflichten nachgeht, erspart er sich anscheinend, seine Rechte auszunützen, wie sie in den sozial- und arbeitsrechtlichen Bestimmungen verankert sind.

2 Herdengeist

Die Kapitelüberschriften im ersten Teil dieses Schulbuches sind bezeichnend: „Familienverband — eine Lebensgemeinschaft“, „Hausgemeinschaft — Nachbarschaft“, „Klassengemeinschaft“, „Jugendgemeinschaften“, „Gemeinschaft durch Arbeit und Beruf“, „Größere Gemeinschaft — Gemeinde, Land und Staat“, schließlich die umfassendste Gemeinschaft als „Bürger dieser Welt“. Da gibt es keine sozialen Gegensätze (zumindest in Europa), sondern nur noch verschiedene „Gemeinschaften“ mit einer vertikalen, hierarchischen Struktur. Zur „Gemeinschaft“ der Familie: „Ein Mann, der viel mit jungen Menschen zu tun hatte, schreibt in einem Buch, daß ein Mädchen ihm einmal gesagt habe: ‚Meine Mutter versteht mich nicht‘ ... Der Autor des Buches fragte darauf das Mädchen: ‚Verstehst du denn deine Mutter!‘ Man soll im Leben darauf schauen, ob man im Leben immer richtig verstanden wird. Unser ganzes Lebensglück hängt davon ab, daß wir die anderen verstehen“ (S. 10).

Die weiblichen Schüler sind nach Ansicht der Lehrbuchautoren schon konstitutionell dazu bestimmt, ihre benachteiligte Situation als gottgegeben hinzunehmen: „In jedem Mädchen ruhen die mütterlichen Anlagen. Sie zu entfalten ist die wichtigste und schönste Aufgabe des Mädchens ... Die Dichterin Gertrud von Le Fort sagt: ‚Mutter zu sein, mütterlich fühlen, heißt: zu den Hilflosen überhaupt stehen, sich allem Kleinen und Schwachen auf Erden hilfreich und liebreich zuneigen‘“ (S.11). Auf Seite 12 wird von der Erfüllung der Frau im Beruf berichtet. Nichts steht darüber, daß Frauen geringere Bildungschancen als Männer haben, daß sie weniger qualifizierte und schlechtbezahlte Arbeiten ausüben, daß sie in Krisenzeiten ihre Arbeitsplätze verlieren usw.

Am Ende des Kapitels lesen wir „einige wichtige Kernsätze“ (S. 20): „niemand darf und kann unsere Gemeinschaft stören. Kummer und Sorge tragen wir gemeinsam ... Recht behalten ist nicht immer ein Zeichen der Stärke. Nachgeben ist nicht immer ein Ausdruck der Schwäche. Was man sich Böses gedacht hat, kann man wieder vergessen, was man aber ausgesprochen hat, vergißt der andere schwer. Es wirkt vergiftend, wenn man einander tagelang etwas nachträgt“ (S. 20); Passivität, Kuschen, Sozialpartnerschaft, in Gestalt von Volksweisheiten. Diese Ideologie durchzieht auch die Kapitel über die Hausgemeinschaft, die Klassengemeinschft und die „Gemeinschaft durch Arbeit und Beruf“ (S. 29). Mit unhistorischen Verallgemeinerungen beweist man, daß „Arbeit und Beruf dich und deine Mitschüler in eine neue Art der Gemeinschaft hineinführen werden“ (S. 29.)

„Das Zusammenleben — eine Sache des Benehmens ... Das reibungslose Zusammenleben von Menschen erfordert von jedem einzelnen viel Selbstbeherrschung“ (Hervorhebung im Buch, S. 16). „Mach deinen Eltern die Erziehungsarbeit nicht mutwillig schwer. Selbst dann nicht, wenn dein Vater oder deine Mutter — was ja einmal geschehen kann — sich irrt und mit einer geäußerten Ansicht oder einer Entscheidung nicht recht hat ... Zum stillen Nachdenken: Wodurch machst du den Eltern Sorge bei ihrer Erziehungsarbeit? Durch Trotz? Durch Besserwissen? Durch Nörgeln? Durch Unzufriedenheit?“ (S. 18 f.) Das ist der Tonfall des Katechismus!

3 Du sollst dich ausbeuten lassen!

Der nächste Abschnitt behandelt die Interessenverbände und Kammern: „Diese Vereinigungen vertreten jeweils die Interessen ihrer Mitglieder, wobei sie aber, verantwortungsbewußt, das Wohl des Staates nie unbeachtet lassen ... Alle diese Gemeinschaften, Betrieb, Kammern und freie Interessenverbände, werden für dich als Berufstätigen einmal sehr wichtig sein, wobei freilich die Gemeinschaft im Betrieb am stärksten auf dich, auf deine Persönlichkeit einwirken wird“ (S. 31).

Willi arbeitet in einem großen Betrieb. Für ihn ist es schwierig, sich der ganzen Gemeinschaft verbunden zu fühlen: „Er kann seinen Vorgesetzten gut leiden, er hat auch einige Freunde im Betrieb; die große Gemeinschaft bleibt ihm aber fremd. Das ist — menschlich gesehen — nicht gut. Die Betriebsführung wird sich daher auch bemühen, durch verschiedene Aktionen im Betrieb die Mitarbeiter einander auch gesellschaftlich näherzubringen. Sie sollen einander kennenlernen, ihre Arbeit gegenseitig schätzen lernen“ (S. 31 f.). Selbstredend kann er seine Vorgesetzten gut leiden, und da revanchiert sich die „Betriebsführung“ mit einem jährlichen „Gemeinschaftstreffen“ beim Heurigen und einem weihnachtlichen „Gemeinschaftstreffen“.

„Der Beruf hat nicht nur den Zweck, den Erwerb von Geld zu ermöglichen ... Der Beruf ist Lebensaufgabe und Lebenserfüllung“ (S. 167). Dem Bewußtseinsstand der Lohn- und Gehaltsempfänger entspricht das allerdings nicht. Was in Untersuchungen oft als Arbeitszufriedenheit bezeichnet wird, stellt sich bei näherer Betrachtung als Resignation, als Gefühl der Ohnmacht heraus. Die meisten Arbeiter und Angestellten sind sich keiner Alternative bewußt, sie arrangieren sich mit dem bestehenden Verhältnissen, weil sie nicht ständig gegen Wände anrennen wollen. Ob man sich zufrieden zeigt, weil man das Gegebene für gut hält, oder ob man ruhig bleibt, weil man nichts besseres kennt, ist ein großer Unterschied.

„Um im Leben etwas zu erreichen, ist vor allem nötig, man muß arbeiten, ein wenig Glück haben und mit dem Erworbenen, mit dem Geld vernünftig umzugehen wissen“ (S. 167).

Im Kapitel „fremde Völker, fremde Religionen, fremde Sprachen“ (S. 43 ff.) wird nicht die Frage gestellt, warum es so krasse soziale Unterschiede in der Welt gibt. Es wird dagegen versichert, wie weltoffen und hilfsbereit die Österreicher (!) sind. „Der Österreicher ist weltaufgeschlossen und den Umgang mit Menschen fremder Völker gewöhnt. Wer die österreichische Geschichte kennt, wird sich darüber nicht wundern ... Deshalb schließt sich Österreich nie aus, wenn es gilt, jenen Menschen in der Welt zu helfen, die in Not geraten sind oder die nicht Anteil haben am glücklichen Leben unserer Zeit.

4 Werdet Homoerotiker!

Erwähnenswert wäre noch das Kapitel „Das liebe Mädel — der nette Bursch“, das zum Ergebnis gelangt, „daß zwischen Vierzehn- und Sechzehnjährigen etwa, die Freundschaft unter Buben einerseits und die Freundschaft unter Mädchen andererseits ergiebiger ist ... Einem Mädchen kann Ursula beispielsweise anvertrauen, was sie unternimmt, um ihre lästigen Hautpickel wegzubekommen, wie sehr sie unter ihrer Stupsnase leidet, daß sie Kopfschmerzen hat und für welche Burschen sie schwärmt. Überlege selbst: Könnte Ursula so etwas auch einem Burschen vortragen?“ (S. 92 f.). Nein! Denn der Bursch könnte antworten, er schwärme gerade für stupsnasige Mädchen, und der schmutzigsten Phantasie wäre freier Lauf gelassen. Glücklicherweise wird das alles nicht den Rahmen der Phantasie überschreiten: „Freundschaft zwischen Mädchen und Burschen gibt es nicht, weil natürliche Hemmungen die beiden hindern, die Grenzen der Kameradschaft zu überschreiten“ (S. 92).

Die wichtigste Lebenshilfe wird dem Jugendlichen im letzten Kapıtel gegeben: „Der Mensch allein ist am Ende. Der Mensch mit Gott nicht. Die Religion lehrt den Menschen: Glaub nicht an Dich, glaub an Gott. Gott ist viel größer als Du. Verlaß Dich auf ihn. Er wird alles rechtmachen, auch wenn Du es nicht durchschaust.“

Das ist der logisch konsequente Schlußpunkt eines Lehrbuchs, in dem gefordert wird, man möge nicht an sich glauben, sondern an den Vater, an den Herrn Lehrer, an den Lehrherrn, an den Unternehmer, an die Oberen.

[1Dieses Lesebuch findet im polytechnischen Lehrgang, also im letzten Hauptschuljahr, Anwendung. Es hat praktisch eine Monopolstellung im Gegenstand Lebenskunde.

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