FORVM, No. 417-419
Oktober
1988

Soziale Rückverriskung

Risiko und Sicherheit sind geradezu inflationäre Begriffe geworden. Entsprechende Debatten werden heute in einer Vielzahl von Bereichen geführt, z.B. über: „Sicherheit und Ordnung“, „soziale Sicherheit“, „Risiken neuer Großtechnologien“, Unsicherheit und die erschütterte Rolle der großen Wissens-, Glaubens- und Moralsysteme und schließlich über individuelles Risikoverhalten und Sicherheitsbedürfnisse. Bei genauerem Hinschauen erweist sich, daß all diese Diskurse um Sicherheit und Risiko von zwei verschiedenen, aber gleichzeitig wirksamen Erfahrungen bestimmt sind.

Auf der einen Seite spielen veränderte individuelle und auch kollektive Selbstverwirklichungsansprüche eine Rolle. In ihrem Namen verliert sich die Ehrfurcht vor wissenschaftlichen Glaubenssätzen und moralischen Tabus, erscheint Sicherheit durch Ordnung als eine reichlich autoritative Angelegenheit, wird weniger von sozialer Sicherheit und mehr von persönlichem Mut zum Risiko gesprochen — einschließlich dem Mut, die Herausforderung und Risiken neuer Technologien als Chance und Lernmöglichkeit zu begreifen.

Auf der anderen Seite dominiert die Reflexion auf die z.T. dramatische Veränderung der Umwelten, in der solche Ansprüche mit Hartnäckigkeit verteidigt werden — Umwelten, die geprägt sind von gewachsenen sozialen Unsicherheiten und autoritativ zugewiesenen technologischen Folgerisiken, Zukunftsängsten und Flucht in neue mythologische Wahrheiten mit Ewigkeitsanspruch, gewachsenen Sicherheitsbedürfnissen, sei es sozialer oder auch autoritativ-politischer Natur.

Wie kann angesichts dessen heute mit der Gleichzeitigkeit gestiegener Sicherheitsbedürfnisse und gewachsener Ansprüche auf Eigenverantwortlichkeit umgegangen werden? Inwieweit stellt die Garantie von sozialer Sicherheit und von Recht auf Risiko, oder, allgemeiner formuliert, von Sicherheit und Freiheit, so etwas wie die Quadratur des Kreises dar?

Von Rückversicherungen zu erworbenen Sicherheiten

Es gibt in Sachen Sicherheit so etwas wie einen Fluchtpunkt der historischen Entwicklung, nämlich die Auflösung aller Rückversicherungen in Ordnungen und unhinterfragbaren Wahrheiten. Als Beispiel mag der mittelalterliche Ritter in Barbara Tuchmanns „Der ferne Spiegel“ dienen. Umhergeworfen in einer Welt der Überraschungen und Gefahren ist die einzige große Sicherheit für ihn die göttliche Ordnung und die entsprechende Ordnung der Dinge auf Erden. Hier macht Suche nach Sicherheit als Geborgenheit im Glauben Sinn, aber wohl kaum das Wort „Risiko“. Erst allmählich werden metaphysische durch irdische Sicherheiten abgelöst, z.B. den Glauben an die Wissenschaft, die die Gesetze der Welt enthüllt und berechenbar macht. Das tun zu können beanspruchte im vorigen Jahrhundert auch die Sozialwissenschaft, die, ob bürgerlich oder marxistisch, gerne mit dem absoluten Wahrheitsanspruch der exakten Wissenschaft auftrat. Mit Blick auf die frühe kapitalistische Industriegesellschaft behauptete sie: Wir kennen ihre Gesetze und den vorherbestimmten Verlauf ihrer Entwicklung; Armut und soziale Unsicherheit sind Schicksal, oder, so die andere Meinung, sie verschwinden von selbst.

Es bedurfte langer Kämpfe, bis gegenüber dieser Art wissenschaftlicher Rückversicherung eine andere wissenschaftliche Sicht auf Gesellschaft und Markt die Oberhand gewann. Sie war weniger deterministisch und betonte die Möglichkeiten und Notwendigkeiten, Sicherheit durch die soziale und politische Praxis erwerben zu können und müssen. Die bürgerlichen Reformökonomen und die reformerische Strömung des Sozialismus spielten hier z.B. eine wesentliche Rolle, gingen sie doch mit Blick auf Markt, Kapital, Armut und Gesellschaft beide davon aus, daß man sozialökonomische „Gesetze“ biegen kann, bevor sie zu brechen sind. Gesellschaftliche Stabilität und soziale Sicherheit müssen und können praktisch hergestellt werden; sie sind durch die kapitalistische Ordnung des Marktes weder automatisch gegeben noch ausgeschlossen — dieser Umschwung der Auffassungen und die entsprechende praktisch-politische Wendung, die die Frage gesellschaftlicher Stabilität und Sicherheit damit erfährt, ebneten den Weg zum Sozialstaat und zu Kompromissen in entsprechenden Auseinandersetzungen über Armut und die Möglichkeiten ihrer Überwindung durch gesellschaftliche Reformen und Stabilisierungen.

Es ließ sich jedoch in den vergangenen 20 Jahren auch der nächste große Schritt verfolgen, mit dem heute die letzten Formen von Rückversicherung abgebaut werden: der Glaube an die Objektivität und Alternativlosigkeit von Technikentwicklung und technischen Wissenschaften. In dieser Zeit ist ins allgemeine gesellschaftliche Bewußtsein gerückt worden, daß die Geschichte der Technologieentwicklung mit politischen Weichenstellungen zu tun hat und es heute ebensoviel Technikalternativen wie gesellschaftliche Alternativen gibt, oder wie Expertisen und Gegenexpertisen, also Wissenschaftsmeinungen. Für Politik und Praxis heißt das, daß es nicht mehr darum geht, die Folgerisiken von etwas zu verwalten, was als unabänderlich betrachtet wird, also „sicher“ ist und „sicher“ kommt, sondern daß nun auch die Richtung des technologischen Fortschritts zu verantworten ist und es darum geht, bestimmte Entwürfe abzulehnen, andere zu modifizieren oder auch nach Alternativen zu suchen. Man könnte also sagen, daß nach der Entdeckung der Gestaltbarkeit von Produktions- und Lebensverhältnissen mit dem Sozialstaat und sozialen Reformpolitiken sich nun das Problem des Sicherheiten-Schaffen-Müssens auf das Gebiet der Produktivkraftentwicklung, also der Wissenschaft und Technik ausweitet, die nicht mehr Kompaß und Richtung liefern, sondern richtungsweisende Entscheidungen von Staat und Gesellschaft fordern.

Und noch etwas kommt hinzu: es zerbröseln in diesen Prozessen die lange Zeit selbstverständlichen Rückversicherungen bei moralischen Normen und kulturellen Traditionen. Auch ihrer können wir uns immer weniger sicher sein. Davon zeugt der wachsende Pluralismus gesellschaftlicher Lebensstile und Subkulturen, aber auch die Schwierigkeit der Versuche, sich bezüglich neuer technologischer Entwicklungseinrichtungen auf konsensfähige Normen zu ihrer Bewertung zu verständigen.

Von Gefahren und Risiken

Während Sicherheit derart immer mehr ein praktisch-politisches Problem wird, weniger Rückversicherungen zur Verfügung und für die Schaffung von Selbstsicherheit zu Gebote stehen, entwickelt sich im Kontext des Machens und Planes erst das, was heute so inflationär als Risiko bezeichnet wird: Risiko nämlich als die berechenbar, kalkulierbar und abgeltbar gemachte Gefahr.

Ausgangspunkt für diesen Prozeß der Entwicklung von so etwas wie gesellschaftlichen Techniken im Umgang mit Gefahren, die man vielleicht mindern, aber nicht beseitigen kann, ist zunächst jene Welt, in der sich zweckhaftes Handeln als erstes ausbildet: die des Marktes, die Welt des Handels, dann der Produktion. Der Begriff „risco“ taucht erstmals in der venetianischen Handelsschiffahrt auf, und mit diesem Begriff verbunden ist die wichtigste Technik der Verwandlung von Gefahren und Risiken, die Versicherung. Sie macht es möglich, die unterschiedlichsten Schadensfälle zu klassifizieren, in austauschbare Geldeinheiten umzuwandeln und diesermaßen berechenbar zu machen.

Diese Technik, unvermeidbare und akzeptierte Gefahren ökonomischer Unternehmungen zu regulieren und damit auch ein Stück weit zu normalisieren, wird schließlich auch auf dem Gebiet der gesellschaftlichen Entwicklung durch staatliche Institutionen übernommen. Seinen sichtbarsten Ausdruck hat das mit der Entwicklung des Sozialstaats in den großen Institutionen der Sozialversicherung gefunden, die den Krankheitsfall, aber auch den Arbeitsunfall zu einem klassifizierten Schadensfall machen. Zusammen mit der Regulierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse, jener Gefahren, die sich mit dem Durchbruch des Industrie- und Marktsystems neu ausbildeten (Arbeitsschutz, sanitäre Maßnahmen) werden aus allgegenwärtigen Gefahren zunehmend berechenbare Risiken.

Während soziale Sicherheit lange Zeit mit Staat assoziiert wurde und Risiko mit dem Unternehmer, haben vor allem in den letzten Jahrzehnten beide Begriffe eine engere Verbindung auch mit der Einzelperson bekommen, dem Individuum, und dem Vorgang, den wir Individualisierung nennen. Ein wichtiger Aspekt der Individualisierungsdebatte ist ja das Individuum als schutz- und sicherheitsbedürftiges Subjekt und zugleich als jemand, der immer mehr Handlungsfreiheiten erwirkt, also selbst Sicherheiten beschafft und Risiken kalkuliert. Stabile Märkte und Sozialstaat schaffen zum Teil erst die Voraussetzungen dafür, daß Leben zu einer Frage von Lebensplanung wird, aus Lebensumständen und Schicksalsschlägen Lebens- und Berufsrisiken und schließlich aus dem Liebes- und Ehepaar „Partner“, die in eine Beziehung trotz all ihrer „Risiken“ „investieren“. Unser Gewinn an Handlungsfreiheit und Handlungskompetenz hat eine Kehrseite — daß immer mehr Vorgänge und Gefahren zu Risiken werden.

Macht und Ohnmacht im Umgang mit Unsicherheit

Ist aber die bessere Handhabung von Folgen von Gefahren und eine Verständigung über den Umgang mit ihnen als „Risiken“, die zweifellos eine Errungenschaft darstellt, schon alles, oder geht es nicht auch darum, solche Gefahren selbst zu verringern? Und: wie gleich oder ungleich sind Macht, Wissen und mithin auch soziale Kompetenz im Umgang mit den Gefahren von Zukunftsentwicklungen zwischen verschiedenen Gruppen und Einzelpersonen verteilt? Diese Fragen zielen auf historisch unterschiedliche Macht- und Handlungskonstellationen und dementsprechende Brüche und Alternativen im Umgang mit Unsicherheit und Risiko. Die Entwicklung bestimmter Techniken der Verwandlung von Gefahren in Risiken kann durchaus bedeuten, daß man der weiter gesteckten Aufgabe einer Verminderung von Gefahrenquellen ausweicht. Ein einfaches Beispiel: Der Siegeszug der Versicherungstechnik in der Ära Bismarck und am Beginn der sozialstaatlichen Entwicklung ist nicht zufällig. Es ist bekannt, daß Bismarck selbst die „neutrale“ Lösung der staatlichen Versicherung einer Politik der Gefahrenminderung vorzog, die bedeutet hätte, durch Arbeiterschutzpolitik und eine bessere Regulation des Arbeitslebens direkt in jene vermachteten Arbeitsverhältnisse einzugreifen, wo mannigfache Gefahren erst entstanden. Sichtbar wird hier der Zusammenhang von Formen des Umgangs mit Gefahren und gesellschaftlichen Macht-Ohnmachtsverhältnissen.

Historisch hieß das zum Beispiel in der Frühphase staatlicher Sozialpolitik, Armut nicht zu beseitigen, sondern als Gefahr für die öffentliche Ordnung zu regulieren, zu verwalten und zu versichern. Die minder repressive Variante der Regulierung von Gefahren als Risiken fand sich bei der Arbeiterbewegung in der Form der defensiven Arbeiterschutzpolitik, die immerhin die gegebenen Arbeits- und Sozialverhältnisse weniger gefährlich zu machen verstand, wenngleich auch sie die sozialen Regeln und Machtverteilungen, die dort immer wieder physische und soziale Gefahren und Unsicherheiten produzierten, zunächst nur wenig zu ändern vermochte. Erst in dem Maße, wie die Arbeiterbewegung an Macht und sozialer Kompetenz gewann, öffnete sie den Weg zum Wohlfahrtsstaat und zu einer entsprechenden Umgestaltung der Arbeits-, Sozial- aber auch der politischen Machtverhältnisse. Über lange Zeit war man im Wohlfahrtsstaat nicht allein gegen Arbeitslosigkeit versichert, sondern auch weniger gefährdet, arbeitslos zu werden. Was hier gelang, war das Durchbrechen der Beschränkung auf mehr oder minder paternalistische Schutz- und Abgeltungspolitiken. So war es möglich, nicht nur Techniken einer anderen Risikoverteilung und -abgeltung zu finden, sondern auch soziale Kompetenz, ein Stück Selbstsicherheit bei der Konzipierung und Durchsetzung gesellschaftlicher Reformen zu erwerben, mit denen Gefahrenquellen reduziert, Schäden gemindert und gesellschaftliche Unsicherheiten verringert werden konnten.

Die Beschränkung von sozialen Bewegungen auf „Risikopolitiken“ im engen Sinne der Abgeltung von Folgewirkungen unabänderlich hinzunehmender Entscheidungen und Entwicklungen drückt also oft Ohnmacht und mangelnde gesellschaftliche Souveränität aus. Dafür läßt sich auch mit Blick auf die gegenwärtige Technologiedebatte ein gutes Beispiel finden: die Metamorphose der antiatomaren Bewegung. Solange diese Bewegung schwach war, mußte sie sich entweder in Kategorien der totalen Verweigerung oder mit Blick auf die Verhinderung der Atomtechnologie in den engen Kategorien von Gefahr und Risiko artikulieren. Das geschah nicht zufällig im Kontext der Rückversicherung bei festen Ordnungen: dem Erhalt der herkömmlichen Ordnung einer Region, der Unverletzlichkeit von ökologischen Kreisläufen usw. Hier grassierte auch das Sprechen im Namen der Angst und das fast unersättliche Sicherheitsbedürfnis der Verängstigten mitsamt all der individuellen Ersatzhandlungen, die sich z.B. angesichtts der Ohnmacht gegenüber Tschernobyl davon herleiteten. Als die antiatomare Bewegung stärker wurde, konnte sie realistischerweise im Namen von Gestaltungsalternativen sprechen, also jenseits des Streits um Schadensgrenzen und physische Risikoausmaße bei der Atomtechnologie Gefahren in einem weiteren Sinne als Gefahren der Großtechnologien für die Demokratie thematisieren und alternative, weniger gefährliche und effektivere Technologien der Energiegewinnung fordern.

Mit Blick auf den Zusammenhang von Risiko, Macht und Ohnmacht wäre damit auch zu fragen, wie weit heute der Diskurs des Schutzes von Gefahren, der Streit um Risikograde, Strahlenmeßwerte und -verordnungen ein Surrogat ist, Beweis für die Schwierigkeiten, ja fast Aussichtslosigkeit, alternative Lösungen und Gestaltungsansätze durchzusetzen. Nicht von ungefähr kann in den Ländern, wo die Frage der Atomenergie hinsichtlich ihrer sozio-ökonomischen und demokratie-politischen Dimensionen strittig ist, keine technische Sicherheitsvorkehrung, keine durch Experten festgelegte Schadensobergrenze, welcher Art auch immer, den Streit um die atomare Technologie zum Verstummen bringen. Denn in diesem Streit spielen Unsicherheiten und Gefahren eine Rolle, die mehr und anderes erfordern als allein technische Risikopolitiken: eine Verständigung über die kulturelle und soziale Richtung von Fortschritt, mithin einen sozialen Konsens, auf dem Techniken der Gefahrenminderung, Risikopolitiken und -strategien im engeren Sinne aufbauen, den sie aber nicht ersetzen können.

Lyrik von Siegfried Holzbauer

Gehen wir in unseren Überlegungen aber noch einen Schritt weiter. Auch eine Gesellschaft, in der ökonomische und soziale Verhältnisse weniger krisenanfällig und prekär wären und in der „sanftere Technologien“ angewendet würden, wäre nicht frei von Gefahren. Allerdings: zu solchen unausweichlichen Gefährdungen, in denen sich der Grad an Heteronomie einer Gesellschaft ausdrückt, haben wir nicht von ungefähr ein anderes Verhältnis als zu jenen Gefahren, die stärker im eigenen Handlungsbereich situiert sind. Zurecht werden die „Risiken“ des Rauchens und die der Atomtechnologie nur auf der mathematischen Ebene von Todesfällen pro Dekade sinnvoll vergleichbar. Das heißt auch, daß eine Gesellschaft von ihren Mitgliedern nur dort und in dem Maße mehr Bereitschaft zum Mittragen von Gefahren fordern kann, wo und wie sie ihnen Mitbestimmung und Mitsprache einräumt. Die Verlagerung der Akzente in den Diskursen um Sicherheit und Risiko von der Absicherung zur Annahme von Risiken um einer Chance willen ist also nur insoweit mehr als ein ideologisches Postulat, wie die Verhältnisse es jenseits einer kleinen Gruppe von Investoren einer großen Mehrheit individueller und kollektiver Akteure ermöglichen, auch ein entsprechendes Maß an Handlungs-Ressourcen und sozialer Kompetenz zu erwerben. Gleichwohl, in dem Maße, wie Gesellschaft dahin erst „unterwegs“, aber auch nach „stark“ und „schwach“ geteilt ist, wird es immer beides geben: Risiken, die als Begleitmoment weitgehend aus eigenem Antrieb eingegangener Projekte und Wagnisse positiv besetzbar sind und jene andere Kategorie von Risiken, die, durch fremdbestimmte Entwicklungen zugewiesen und oktroyiert, Schutzbedürfnisse hervorrufen und Sicherungsansprüche legitimieren.

Rückhalt & Spielraum

In Frage steht dabei nicht einfach ein Mehr oder Weniger an Staat, sondern die Qualität und Prioritätensetzung seines Handelns, mitsamt der Frage, welche Rolle den gesellschaftlichen Partnern, seien es nun Organisationen oder Einzelbürger, dabei zukommen soll. Wie sehr sind sie schutzbedürftige Klienten und Konsumenten und wie sehr Akteure, die dem Staat Monopole aufs Absichern und Intervenieren streitig machen könnten?

Gerade in der Sozialpolitik läßt sich ja jenes eigentümliche Nebeneinander zweier Diskurse beobachten, die den von ihnen jeweils beanspruchten Realismus aus je unterschiedlichen Aspekten der sozialpolitischen Wirklichkeit herleiten. Da ist auf der einen Seite der Diskurs um die gewachsene soziale Unsicherheit, den Abbau sozialstaatlicher Sicherungen und die Privatisierung von Risiken. Der Staat ist hier bezüglich seiner Schutzfunktionen angesprochen, Freiheit vor allem als „Freiheit von Not“. Der zweite Diskurs setzt demgegenüber ganz andere Akzente. Hier geht es um die Kritik an dem bevormundenden Charakter staatlicher Sicherungen, um Freiheit als die Mehrung von Wahlfreiheiten und Optionen. Sicherlich: in vielen Fällen gibt erst Schutz vor dem Fremdrisiko die Möglichkeit zu eigenverantwortlicher Lebensplanung mitsamt deren Risiken; dazu gehören gesicherte Arbeitsplätze, Einkommen und Pensionen, die mehr Rückhalt und Spielraum geben. In vielen Bereichen ist aber der herkömmliche Kompromiß zwischen „Recht auf Sicherheit“ und „Recht auf Risiko“ nicht länger unumstritten: Ist das Nachtarbeitsverbot für Frauen eine wichtige Schutzregel oder nicht eher eine entmündigende Zwangsregel? Sind gewisse Normen und Vorschriften für die Verhältnisse am Arbeitsplatz oder in sozialen Einrichtungen unerläßlicher Schutz oder nicht auch eine hinderliche bürokratische Bevormundung für eine lokale Arbeitsbeschaffungsinitiative oder eine Elterngruppe, die einen Kinderladen gründet? Soll im Interesse der Frauen vor der derzeitigen Form der Ausbreitung von Teilzeitarbeit geschützt werden oder sind nicht Betroffene, Interessierte und ihre Organisationen mündig genug, um mit den Chancen und Risiken der gegebenen Entwicklung selbst aktiv, also auch verändernd, umgehen zu können? Sollen unsere Krankenkassenbeiträge gesenkt und Bagatellrisiken selber bezahlt werden, oder lohnt die höhere Sicherheit auch weiterhin höhere Beiträge?

Es läßt sich unschwer zeigen, daß unterschiedliche Haltungen in diesen Auseinandersetzungen auch mit unterschiedlichen Gruppeninteressen, Kulturen, erworbenen Lebenseinstellungen und Fähigkeiten zu tun haben. Die Ausbreitung und Verallgemeinerung wohlfahrtsstaatlicher Sicherungen in besser gestellte und ausgebildete gesellschaftliche Schichten spielt hier ebenfalls eine Rolle. Eines scheint aber immer deutlicher zu werden — es gibt keine einfachen Antworten nach dem Motto: Wahlfreiheiten sind der Luxus derer, die sich’s leisten können, Schutzrechte das Brot der Armen, so, als wäre die „Rechte“ noch „oben“ und die „Linke“ noch „unten“ in der Gesellschaft anzusiedeln (wo es doch mit der Bestimmung der beiden Seiten schon genug Schwierigkeiten gibt). Ein Umbau des Sozialstaates muß offenbar beides im Auge behalten: zum einen veränderte Individualitäten und eine generell gewachsene soziale Kompetenz, die die bloße Verteidigung von sozialen Sicherheiten mitsamt dem auf den fügsamen Untertanen zielenden Bismarckschen Erbanteil verbietet; zum anderen darf sie nicht die Sicherheitsbedürfnisse der vielen außer acht lassen, deren Biographien und Lebensumstände vom gefügig und unmündig Machen geprägt wurden — egal, ob am Arbeitsplatz, im Familienleben oder in den Ämtern und Anstalten einer staatlichen Obrigkeit. Eine Erneuerungsstrategie, die nur von mehr Wahlfreiheiten und dem Recht auf das eigene Risiko spricht, droht selbst neue Ungleichheiten und Gefahren zu schaffen, nicht zuletzt deshalb, weil unter den gegebenen politischen Verhältnissen das Aufgeben alter Sicherheiten zugunsten neuer Freiheiten sehr oft ein hohes Wagnis beinhaltet. Sich über Bedingungen zu verständigen, unter denen soziale Sicherheit und persönliche Freiheit, Rechte auf Sicherheit und Risiko neu balanciert werden könnten, ist angesichts dessen ebenso dringlich wie schwierig.

Im Unterschied zu der konservativen, aber auch zur elitär progressiven Variante einer Privatisierung von Risiken, die entweder bewußteres Gesundheitsverhalten durch finanzielle Inpflichtnahme herbeizwingen will oder eine allgemeine bereits vorhandene soziale Kompetenz zur Eigenverantwortung von Risiken unterstellt, würde eine solche Strategie der Individualisierung der Sozialpolitik Sicherungs- und Leistungssysteme daraufhin abklopfen, inwieweit sie gezielte Hilfen zum Aufbau von mehr Fähigkeiten zu größerer Selbstverantwortung liefern. Sie wären so umzubauen, daß sie selbst verantwortliches Handeln lehren und erleichtern — „make the healthier choice the easier choice“ heißt das z.B. bei der Weltgesundheitsorganisation. Es heiße also, daß die Zukunftsorientiertheit des Sozialstaates nicht allein daran zu messen wäre, wieweit er jenseits des Schutzes vor und der Abgeltung von Risiken in Zukunftsentwicklungen gestaltend eingreift. Ob und inwieweit seine Leistungen die Bürger eingriffsfähiger machen, das wäre jetzt ein wichtiges zusätzliches Kriterium. Präventive Beratungs-, Bildungs- und Lernangebote, Hilfen zur Entwicklung von mehr Selbsthilfekompetenz wären also gefordert. Es ginge sowohl um eine Veränderung von Außenbedingungen, als auch um die Entwicklung unserer Fähigkeiten zum Umgang mit ihnen. Neue Grundsicherungen und -sicherheiten zu schaffen, Hilfen zum Erwerb von Selbsthilfekompetenzen zu geben und darüber hinausgehend mehr Wahlmöglichkeit zu bieten — so mag vielleicht das „magische Dreieck“ einer Sozialpolitik lauten, die einen neuen, zeitgemäßen Begriff sozialer Sicherheit entwickeln muß.

Auch in der Technologiepolitik ist jedoch die traditionelle Teilung der Verantwortlichkeiten in Sachen Sicherheit fragwürdig geworden. Für die Regulierung und Abgeltung der Folgerisiken von Techniken war vor allem der Staat zuständig, vielleicht auch noch Gewerkschaften und Unternehmer, wenn es um die Gefahren der Arbeitswelt ging. Eine solche Zentrierung auf traditionelle, einstweilen noch starke Macht- und Organisationsfaktoren aber heute unter Parolen wie der von der „sozialen Kontrolle der Technologie“ einfach fortschreiben zu wollen, bedeutet jedoch den Versuch, neuen Wein in alte Schläuche zu gießen. Der „neue Wein“ steht hier für jene neue Technikdebatte, die sich nicht mehr allein in Kategorien des (Arbeits)Schutzes und der Sicherungsnormen oder denen der gerechteren Verteilung der Früchte des technologischen Fortschritts bewegt, sondern in Kategorien wie denen der „Gestaltung neuer Technologien“, ihrer „sozialen Aneignung“, „humanen Orientierung“ und „bedürfnisgerechten Gestaltung“. Technologiepolitik mochte Staats-, aber auch sozialpartnerschaftliche Angelegenheit sein, solange es allein um Wachstumsförderung und nachträgliche technische Schutzmaßnahmen ging. Jetzt aber, wo die Technologien in das gesamte gesellschaftliche Feld in und außerhalb der Betriebe eindringen und die Ansprüche an den planenden Eingriff gewachsen sind, muß gefragt werden, wie weit dabei die Zentrierung auf staatliche Politik und ihr zugeordnete korporative Abstimmungsgremien noch Sinn macht. Wohl zu Recht hat man sich verschiedentlich lustig gemacht über ein „Grünes Umbauprogramm“, das technologische und damit verbundene soziale Innovationen durch ein scheinbar nicht enden wollendes Labyrinth von Beratungs-, Kontroll- und Prüfstellen schicken will. Wenn man das anspruchsvolle Wort von der „sozialen Kontrolle“ neuer Technologien ernst nimmt, dann ist möglicherweise die Erlangung von Kontrollfähigkeit eine viel weiter gesteckte Aufgabe: sie erfordert neue und weitergesteckte politische Inhalte, auch neue politische Handlungsformen. Es gilt zu realisieren, daß eine neue Technologie Produkt einer ganzen Verhandlungskette ist. Dazu gehören die Verhältnisse in Labors und Großforschungseinrichtungen, bei privaten Investitionsentscheidungen und staatlichen Gremien, aber auch die Konfliktfähigkeit, Organisiertheit und Mündigkeit von Konsumenten. Neue Technologien sind das Produkt eines komplexen Misch-Maschs von individuellen Orientierungen, öffentlichem Meinungsklima und Meinungsbildung, wo zwar staatliche Entscheidungen eine Schlüsselrolle spielen fürs Freisetzen oder Verhindern, aber all diese gesellschaftlichen Verhandlungsebenen nicht ersetzen können, wenn es um die neue, gegenüber der Vergangenheit anspruchsvollere Version des Umgangs mit Technologien geht: das Gestalten oder soziale Aneignen einer technologischen Entwicklung. Erst wenn man all die verschiedenen gerade angesprochenen sozialen, politischen und kulturellen Ebenen einer „Subpolitik“ (Beck) aktiviert, dann kann man vielleicht mehr „Verhandelbarkeit“ neuer Technologien erreichen. Das mag weniger sein als „Kontrolle“, zugegeben. Aber vielleicht ist eine solche auf die Mündigkeit von Gesellschaft setzende Orientierung auch realistischer als die Utopien einer omnipotenten Politik mitsamt der Zentrierung von Hoffnungen, Verantwortlichkeiten und Machtphantasien auf diesen Bereich. Eine stärker auf gesellschaftliche Akteure orientierte Strategie der Herstellung von mehr Verhandelbarkeit neuer Technologien will den Staat nicht aus seiner Verantwortung entlassen, sondern sucht nach besseren Ausgangsbedingungen, um ihn anders in Verantwortung nehmen zu können.

Ziel wäre es dabei, in der Sozial- und Technologiepolitik die Summe der Risiken zu mindern, die auf Grund nicht mehr oder noch nicht beeinflußbarer Entwicklungen „verordnet“ sind, und gleichzeitig zu lernen, mit den Unsicherheiten und Risiken besser umzugehen, die Produkt unserer eigenen sozialen und technologischen Zukunftsprojekte sind. In der schwierigen Balance zwischen Absicherungsbedürfnissen und Gestaltungsansprüchen sollte Politik also allemal auf die Möglichkeit zielen, letztere zu stärken: den Menschen weniger schutzbedürftiges Objekt und mehr gestaltungsfähigen Akteur werden zu lassen.

Literatur

  • Beck, U. 1987: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in einer anderen Moderne. Frankfurt a.M.
  • Guggenberger, B. 1987: Das Menschenrecht auf Irrtum. Anleitung zur Unvollkommenheit. München/Wien.
  • Evers, A./Nowotny, H. 1987: Über den Umgang mit Unsicherheit. Die Entdeckung der Gestaltbarkeit von Gesellschaft. Frankfurt a.M.
  • Evers, A. 1987: Entstaatlichung als Resozialisierung von Politik, in: Kommune Heft 2.
  • Kaufmann, F. X. 1987: Normen und Institutionen als Mittel zur Bewältigung von Unsicherheit: Die Sicht der Soziologie, in: Holzheu, F./Kaufmann, F. X./Hoyos, C. (Hg.): Gesellschaft und Unsicherheit. Karlsruhe.
  • Preuß, U.-K. 1987: Die Demokratie lebt vom Streit und auch von der Ungewißheit. Überlegungen zu einer „ökologischen Demokratie“, in: Frankfurter Rundschau vom 28.10.1987
  • Zapf, W. u.a. 1987: Individualisierung und Sicherheit. Untersuchungen zur Lebensqualität in der Bundesrepublik Deutschland. München.
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