FORVM, No. 120
Dezember
1963

Surrealisten unter sich

Ein Gespräch

Victor Brauner (geboren 1903 in Bukarest) ist einer der vielen Außenseiter unter den Pariser Malern. Nach seinen ersten Ausstellungen wurde ihm das Etikett „Surrealist“ angeheftet, das loszuwerden ihn nun einige Mühe kostet. In einem klärenden Gespräch half ihm dabei Edouard Roditi, Kunstkritiker, Herausgeber und Autor mehrerer Bücher (zum Beispiel „Oscar Wilde, Dichter und Dandy“, „Dialoge über Kunst“ und, in Vorbereitung, ein umfangreiches Werk über Delacroix). Der nachstehend abgedruckte Dialog sei gleichzeitig eine Vorbemerkung für die Ausstellung der Werke Victor Brauners, die das Wiener Museum des 20. Jahrhunderts für das kommende Jahr plant.

Wenn es — wie die Prinzessin Bibesco behauptet — Russen aus Nizza gibt wie Veilchen aus Parma, so kann man das kaum von den Rumänen aus der Rue Lepic sagen. Der Bukarester Maler Victor Brauner, der in jener Straße wohnt, ist aber auch in anderer Hinsicht ein Einzelfall: seit er Ende der Zwanzigerjahre nach Paris zog, ist er dort regelmäßig bei den großen Ausstellungen der Surrealisten vertreten, obwohl er sich selbst keineswegs für einen Surrealisten hält. Nach zahlreichen Werken, die dem Geist des Surrealismus verpflichtet sind, begann Victor Brauner um 1940 Bilder zu malen, die in Sujet, Ausführung und Stil oft an Objekte der Aztekenkunst oder an Skulpturen aus Neu-Guinea erinnern. Manche Figuren der Braunerschen Visionen gleichen eher Totems, die der Mythologie einer kultischen Gemeinschaft entstammen, als Wesen aus der Traumwelt eines Einzelnen.

Ich habe daher Victor Brauner bei meinem letzten Besuch in seinem Atelier eine Reihe von Fragen über seine Beziehungen zur surrealistischen Bewegung gestellt.

Roditi: Betrachten Sie sich — was Ihre Malerei betrifft — als einen typischen Surrealisten?

Brauner: Nein. Eine „typisch surrealistische Malerei“ im wörtlichen Sinn hat es niemals gegeben. Das hat auch André Breton erkannt. Als er über diese Frage seine bedeutendste Schrift veröffentlichte, nannte er sie „Der Surrealismus und die Malerei“ und nicht „Surrealistische Malerei“. Es gab seinerzeit zwar eine Malerei, die mit den Zielen der Surrealisten übereinstimmte, aber es gab keine surrealistische Malerei.

Roditi: Was war dann Ihrer Meinung nach diese Malerei?

Brauner: Breton hat einige Beispiele aus der Vergangenheit aufgezählt. Man kann schwerlich behaupten, daß Hieronymus Bosch, Gustave Moreau oder selbst Giorgio de Chirico „Surrealisten“ waren. Ich möchte es lieber so ausdrücken: es handelt sich hier um eine Kunst, die sich manchmal unbekannter Formen bediente, um Archetypen oder Symbole wiederzuentdecken, die in irgendeiner Weise der Urgeschichte des Seins zugehören und die eben damals die Surrealisten beschäftigten. Diese neue Vorstellung von Kunst eröffnete uns Malern ungeheure Möglichkeiten der Erfahrung, der ursprünglichen Erkenntnis und des Ausdrucks. Ich habe mich der surrealistischen Bewegung damals deshalb angeschlossen, weil sie auf sehr verschiedenen, manchmal geradezu widersprüchlichen Grundlagen aufgebaut war. Die enge Beziehung, die mich mit dieser Gruppe verband, war freilich mehr ethischer als ästhetischer Natur.

Roditi: Wie würden Sie die Theorie dieser surrealistischen Kunst formulieren?

Brauner: Es gab damals noch keine Theorie im strengen Sinn. Sie wurde in jedem Falle bestimmt von der Entwicklung der Kunst in allen Bereichen bis zum heutigen Tag. Eines kann man wohl festhalten: der surrealistische Maler legt geringes Gewicht auf die verschiedenen Techniken, er beschäftigt sich vor allem mit dem Inhalt des Kunstwerks, das heißt mit dem Unbewußten, das sich in ihm enthüllt, mit den Archetypen, die man in ihm entdecken kann.

Roditi: Welchen Sinngehalt geben Sie dem Ausdruck „Archetypus“? Handelt es sich um Typen menschlicher Erfahrung, die in gewisser Weise — nach der Lehre C. G. Jungs — die Grundlage aller unserer Mythologien, aller unserer Glaubensinhalte bilden?

Brauner: Ja. Freilich ist der surrealistische Maler in dieser Hinsicht mehr auf sich selbst gestellt als der primitive Mensch.

Roditi: Ist er — nach Ihrer Meinung — irgendwie „vom Stamme getrennt“, das heißt jeder sozialen Gemeinschaft, deren Glaubensinhalte er teilen könnte, beraubt?

Brauner: Ja, denn seine Erfahrung ist subjektiv und damit experimentell im Vergleich zu der Erfahrung, die ihm eine kultische Initiation vermitteln könnte. Der surrealistische Künstler zieht sich auf sich selbst zurück, um zu den Archetypen zu finden, während sich der primitive Mensch zum gleichen Zweck einer Gemeinschaft verbindet. Sobald ich mir meiner Einsamkeit und meiner Subjektivität bewußt werde, lockert sich meine Bindung an eine Gruppe, selbst an die Gruppe der Surrealisten.

Roditi: Liegt hierin vielleicht die Ursache der — für die Geschichte der surrealistischen Bewegung so kennzeichnenden — zahlreichen Ausschlüsse und „Exkommunikationen“ von Dichtern und Malern?

Brauner: Es besteht zweifellos ein Gegensatz zwischen den ideologischen Bindungen der Surrealistengruppe und der surrealistischen Erfahrung selbst, wie sie der einzelne Maler oder Dichter erlebt. Diese streng individuelle Erfahrung setzt sich trotz der ideologischen Bindung an die Gruppe durch, und zwar fast immer in Form einer gewissen Abweichung, einer scheinbaren Häresie.

Roditi: Wie kommt es aber dann, daß der Surrealismus als Gruppe dennoch seit vierzig Jahren besteht?

Brauner: In einer Zeit, die so brutal und verworren ist wie die unsere, scheint der Surrealismus eine bestimmte Bedeutung zu haben, wenn man sie auch nie genau abgrenzen konnte. Im Surrealismus, als Richtung, fanden seine Anhänger zahlreiche Gestaltungsformen vor, in die ihr persönlicher Ausdruck einfließen konnte. Dies trifft vor allem für Dichtung und Roman zu. Dem Maler, der mehr als der Dichter mit Handwerkszeug und Material kämpfen muß, stellen sich immer neue technische Probleme, die den rein künstlerischen Erwägungen benachbart sind. Deshalb besteht heute keine Verbindung zwischen mir und den jungen Surrealisten um André Breton. Diese Künstler sind durch Anschauungen und Verhaltensweisen verbunden, die vielfach mehr politisch-sozialen als künstlerischen Charakter tragen. Ihre Handlungen mögen noch so spontan und selbständig erscheinen, sie sind stets bestimmt durch Entscheidungen des Kollektivs. Ich kann Eingriffe in mein absolutes Freiheitsbedürfnis nicht ertragen, deshalb kann ich auch an kollektiven Aktionen dieser Art nicht teilnehmen.

Roditi: Vielleicht ist die Gruppendisziplin zu streng geworden, um einem wahrhaft schöpferischen Geist das nötige Freiheitsgefühl für seine individuelle Tätigkeit als Maler oder Dichter zu gewähren. In diesem Zusammenhang möchte ich Sie fragen, welche eigenen Gedanken und Empfindungen Sie in Ihrer Malerei der letzten Jahre ausgedrückt haben?

Brauner: Wie jeder Künstler muß ich ganz persönliche Probleme lösen. Dazu brauche ich meine ganze Freiheit. Ich habe mich nie als Glied einer Gemeinschaft gefühlt, sondern frei, zu tun, was mir beliebt, ohne Rücksicht auf Richtung oder Stil. Im übrigen verfüge ich, wie jeder Maler unserer Zeit, über eine reiche Fülle von Ausdrucksmitteln und Ausdrucksarten, die in der Geschichte der Kunst einmalig ist. Im allgemeinen nimmt man mich als den, der ich bin, ohne mich zu zwingen, der zu bleiben, der ich war.

Roditi: Sind Sie der Ansicht, daß die sogenannte informelle Malerei einem Künstler eine neue Art der Freiheit zu geben vermag?

Brauner: In der Theorie vielleicht. Für die Praxis aber fehlt diesem Gedanken- oder Empfindungsgebäude jedes feste Fundament. Begriffe wie „figurativ“ oder „nicht figurativ“, „formell“ oder „informell“ markieren das System nur sehr oberflächlich. Ein Maler wie Klee hat uns „figurative“ und „nicht figurative“ Werke hinterlassen. Aber alle sind gleichermaßen von seiner persönlichen Meisterschaft erfüllt.

Roditi: Sie würden also kaum die Etablierung eines unveränderlichen und sehr persönlichen Genres oder Stils empfehlen?

Brauner: Der moderne Kunstmarkt zwingt den Maler, sich zu spezialisieren und, im Endeffekt, sich zu wiederholen. Seiner ganzen Produktion können auf diese Weise die Impulse jedes künstlerischen Ausdrucks entzogen werden, als da sind: das Abenteuer, das Risiko, sich zu irren oder zu verlieren, die Gefahr. Jedesmal, wenn ich vor einer Leinwand stehe, auf der ich malen werde, fühle ich mich als neuer Mensch. Ich werde in meinen eigenen Augen ein Unbekannter. Vor diesem „Werden“, das künstlerischer Ausdruck ist, kann man sich nicht allein auf das berufen, was man schon gemacht hat oder schon gewesen ist. Ich will und kann mich nicht spezialisieren. Im übrigen war davon auch niemals die Rede.

Das klang kategorisch genug. Wir hätten uns noch lange Zeit unterhalten können, aber ich wollte in den Augen von Victor Brauner nicht als Großinquisitor erscheinen. Wie er sich selbst als Unbekannten vor jedem neuen Bild, das er malen wird, empfindet, so betrachtet er auch die Bilder, die er gemalt hat, als die Bilder eines Fremden oder zumindest eines „Ich“, das ihm längst fremd geworden ist, das vielleicht schon tot ist. Es wäre daher sinnlos, von Victor Brauner Erklärungen über seine Bilder zu verlangen. Es liegt an uns, diese Bilder zu deuten, wenn wir uns dieser Aufgabe gewachsen fühlen. Der Maler hat sie geschaffen, er hat sie — wie jeder Visionär — erlitten. Andere müssen den Kommentar zu seiner Leidensgeschichte geben.

Die Abbildungen entstammen einer Folge von 7 Radierungen Victor Brauners: Codex d’un visage.

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