FORVM, No. 204/I/II
Dezember
1970

Unsere Überlebenschance: 50%

Eine Weihnachtsansprache

G. M., der schwedische Nationalökonom von Weltruf, sprach nachfolgenden Text bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels. Eine geeignete Weihnachtsansprache 1970.

Der Abstand zwischen der Forschung und den praktisch-politischen Stellungnahmen ist für mich nie eine tief einschneidende Kluft gewesen. In meiner Forschung gehe ich bewußt von explizit formulierten Wertvoraussetzungen aus. Ich sehe und untersuche die wirtschaftliche, soziale und politische Wirklichkeit von diesen Wertungen her. Eine solche von Wertungen gesteuerte Forschung kann deshalb zu politischen Schlußfolgerungen führen. Und diese Schlußfolgerungen können den Anspruch erheben, rational zu sein: Sie stellen logische Schlüsse dar aus den angegebenen Wertungen und dem durch Anwendung dieser Wertungen erworbenen Wissen über Tatsachen und deren ursächliche Zusammenhänge.

In dem ersten von SIPRI (Stockholm International Peace Research Institute) publizierten Jahrbuch für 1968/69, welches im Herbst 1969 gerade während der Abrüstungsdebatte der Ersten Kommission der UNO-Generalversammlung auf den Tisch kam und einiges Aufsehen erregte, konnte man lesen, daß die Welt in diesem letzten Jahr 30 Prozent mehr für militärische Zwecke ausgegeben hatte, und zwar real gerechnet, in unverändertem Geldwert, als im Jahre 1965. Für die beiden Supermächte war die Zuwachsquote während dieser vier Jahre sogar etwas mehr als 40 Prozent. Heute sind die Militärausgaben in der Welt ebenso groß wie das gesamte Einkommen der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung.

Verglichen mit den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg — auch dies bekanntlich eine Periode des Wettrüstens —, sind die Rüstungsausgaben in der Welt um das Zehnfache gestiegen, und zwar immer noch real gerechnet. Tief tragisch ist dabei, daß auch die unterentwickelten Länder einen so großen Anteil ihres knappen Volkseinkommens für Rüstungszwecke ausgeben, gewöhnlich ein Vielfaches von dem, was sie beispielsweise für Erziehung und Unterricht verwenden. In dieser Handlungsweise werden sie meist bestärkt und unterstützt von den Großmächten, deren Antagonismus auch in diesem Wetteifern zum Ausdruck kommt.

Wir fahren fort, die Entwicklung dieser Länder mit Hilfe von einfachen Zuwachsquoten des Nationaleinkommens zu kennzeichnen. Statistisch gesehen, sind diese Quoten außerordentlich zweifelhaft, und zwar sowohl in bezug auf die Definition der benutzten Begriffe als auch bezüglich des Primärmaterials, auf das sich diese Berechnungen stützen. Sie geben ein stark verschönertes Bild dessen, was heute in diesen Ländern vor sich geht.

Wir verdrängen aus unserer Sicht und aus unserem Forschungsbereich die Mehrzahl der ungünstigen Faktoren, die heute der Entwicklung dieser Länder im Wege stehen. Lassen Sie mich nur einige nennen: die eingewurzelte Klassenstruktur dieser Gesellschaften; die extrem ungleichen Machtverhältnisse; die ungünstigen Auswirkungen auf die Produktivität, die darauf zurückzuführen sind, daß die Masse der Bevölkerung auf niedrigstem Lebensstandard lebt und arbeitet.

Die Hauptbedingung für wirklichen, dauerhaften Fortschritt in diesen Ländern sind radikale innere Reformen. Diese Reformen müssen den Trend wenden, der jetzt auf eine Verschärfung der Ungleichheit der Lebensbedingungen in fast allen diesen Ländern hinsteuert.

In den meisten dieser Länder sind die Bodenreformen verpfuscht worden, und die ganze Frage der Bodenreform ist jetzt in der öffentlichen Debatte nahe daran, unter den Tisch zu fallen, besonders in der von Washington ausgehenden naiven Verkündigung einer „grünen Revolution“.

Die Korruption ist in diesen Ländern evident, und sie greift fast überall immer weiter um sich. Ohne ein weit höheres Maß von sozialer Disziplin läßt sich eine schnelle und dauernde Aufwärtsentwicklung nicht erzielen.

Die Erwachsenenbildung wird in fast allen nichtkommunistischen unterentwickelten Ländern vernachlässigt.

Der Schulunterricht bedarf radikaler Reformen, sowohl in bezug auf seinen Inhalt wie auf seine Organisation. Gegenwärtig ist das Unterrichtswesen in diesen von sozialer Ungleichheit gekennzeichneten Ländern meist eher dazu geeignet, die sozialen Gegensätze zu bewahren oder zu verschärfen, damit der Entwicklung neue Hindernisse in den Weg zu legen.

Nur einige wenige unterentwickelte Länder haben bisher effektive Pläne zur Verbreitung der Geburtenkontrolle ausgearbeitet und die Durchführung dieser Pläne ernstlich in Angriff genommen. Da man auch in den Ländern, wo solche Versuche unternommen worden sind, auf vielerlei Schwierigkeiten gestoßen ist, sind die Resultate bisher nicht gerade groß. Die in den Planungen gesetzten Ziele sind in der Regel nicht erreicht worden. Dies gilt mit Ausnahme einiger weniger, vorwiegend kleinerer Länder, die zumeist unter japanischem oder chinesischem Kultureinfluß standen. Bestenfalls können diese Maßnahmen den Zuwachs der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter nicht vor Ende dieses Jahrhunderts zum Stillstand kommen lassen.

Die inneren Reformen müssen von den Ländern selbst durchgeführt werden. Mit Ausnahme der Bevölkerungspolitik — bis zu einem gewissen Grade — stoßen solche Reformen auf den harten Widerstand der dünnen oberen sozialen Schichten in diesen Ländern, die fast durchwegs die eigentliche Macht fest in ihren Händen halten, und zwar unabhängig davon, welche Art von politischem Regime in dem Lande herrscht.

Die Hilfe, die von den entwickelten Industriestaaten geleistet wird, wie auch die sonstige finanzielle und industrielle Aktivität, die von diesen ausgeht, zeigt meist die Tendenz, diese oberen Schichten zu stützen und zu begünstigen, also die Schichten, die dem sozialen Ausgleich und Reformen aller Art abweisend gegenüberstehen. In derselben Richtung wirken die Vorurteile der Forschung und der allgemeinen Debatte. Diese wesentlichen inneren Fragen der unterentwickelten Länder werden nämlich hier meist umgangen, was in Wirklichkeit den reaktionären Kräften Vorschub leistet.

Inzwischen sind für die Welt als Ganzes die öffentlichen internationalen Hilfeleistungen an die unterentwickelten Länder nach einer Periode des Anwachsens wieder zum Stillstand gekommen; real gesehen, sind sie, in Anbetracht der raschen allgemeinen Preissteigerungen, sogar erheblich zurückgegangen.

Mehr noch: Die Qualität dieser Hilfeleistungen hat sich in verschiedener Hinsicht verschlechtert. Zunächst wird ein immer größerer Teil der Hilfe an den Export des Geberlandes gebunden. Dadurch wird die Wahlfreiheit des Empfängerlandes beeinträchtigt: Man kann nicht die Waren kaufen, die man am dringendsten benötigt, und man kann es nicht auf denjenigen Märkten tun, wo sie am billigsten sind.

Weiters sind Darlehen immer mehr an die Stelle von Gaben getreten. Zwar sind, wenigstens bis vor einigen Jahren, die Zinssätze und die übrigen Darlehensbedingungen so angepaßt worden, daß sie für die Empfängerländer günstig sein sollen, aber die Entwicklung hat doch zu einer explosionsartig anwachsenden Schuldenbelastung geführt, die bereits jetzt die Zahlungsbilanz vieler unterentwickelter Länder schwer erschüttert und in Zukunft in noch alarmierenderer Weise erschüttern wird.

Es gibt keine überzeugenden Anzeichen dafür, daß der Strom finanzieller Hilfe von den entwickelten Industrieländern sich, aufs Ganze gesehen, wieder wesentlich verbreitern und daß seine Qualität sich verbessern wird. Eine weitere Verschlechterung erscheint im Gegenteil nicht ausgeschlossen.

Sowohl in bezug auf die staatlichen wie in bezug auf die privaten Zuwendungen an die unterentwickelten Länder herrscht zudem eine völlige Verwirrung in der statistischen Erfassung und Bewertung der Beiträge. Insgesamt läuft diese Verwirrung auf eine bedeutende Überschätzung der aufgewendeten Beträge hinaus.

Die unterentwickelten Länder tragen alle an dem schweren Erbe einer ungünstigen Handelsposition. Seit dem Ende des Ersten Weltkrieges hat sich diese Position weiter verschlechtert, und die Verschlechterung setzt sich noch fort. Besonders in bezug auf den Absatz sowohl ihrer landwirtschaftlichen wie ihrer industriellen Erzeugnisse sind diese Länder schwer diskriminiert. Vernünftigerweise sollten sie statt dessen bevorzugt sein, wenn es nämlich wirklich die Absicht der Industrieländer wäre, ihnen in ihrer Entwicklung zu helfen. Die Unctad-Konferenz in New Delhi im Frühjahr 1968 schaffte keine wesentliche Verbesserung der Situation.

Nun, es gibt auch Zeichen ganz anderer Art, die uns klarmachen, daß die Menschheit auf falschen Wegen ist. Eine drohende Gefahr, deren wir erst in den letzten Jahren voll bewußt geworden sind, bezieht sich auf die erschreckend rasch fortschreitende Vergiftung unserer Luft, unseres Wassers, unserer Erde.

Meine Freunde und Kollegen unter den Naturwissenschaftern versichern mir, daß sich diese Vergiftung rasch ausbreitet und daß sie auf immer neue Bereiche des menschlichen Lebens übergreift. Die kommunistischen Länder sind von dieser Gefahr in gleicher Weise bedroht. Auch die unterentwickelten Länder leiden bereits unter den Auswirkungen dieser Milieuvergiftung.

Die allgemeinen Ursachen der gefahrvollen Entwicklung liegen bis zu einem gewissen Grade in der Vermehrung der Weltbevölkerung und in dem Urbanisierungsprozeß, der sich in der ganzen Welt geltend macht. Aber eine noch größere Rolle als Ursache spielt die rücksichtslose Ausnutzung der modernen Technik, eine Ausnutzung, die einzig und allein oder ganz überwiegend auf kurzsichtigem Gewinnstreben beruht. Keine anderen Kosten werden dabei in Rechnung gestellt als die im engsten Sinne betriebswirtschaftlichen.

Unter solchen Gesichtspunkten werden heute sowohl öffentliche wie private Betriebe geplant, so werden Automobile konstruiert, so versuchen Landwirte, ihren Ertrag zu vergrößern.

Soll dieser Entwicklung Einhalt geboten werden, so bedarf es energischer öffentlicher Eingriffe, gesellschaftlicher Kontrolle, auch bedeutender öffentlicher Ausgaben. Nicht zuletzt werden internationale Abkommen vonnöten sein, da die Gefahren der Vergiftung der Elemente nicht an nationalen Grenzen haltmachen. Eine ökologische Weltkonferenz unter den Auspizien der UNO ist für 1972 nach Stockholm einberufen.

Ob es möglich sein wird, die öffentliche Meinung in dieser Frage so zu aktivieren und zu schärfen, daß sich die Regierungen veranlaßt fühlen, bedeutende Kosten auf sich zu nehmen und weitgehende Einschränkungen der individuellen Handlungsfreiheit zu akzeptieren, um das menschliche Milieu zu entgiften, ehe der Schaden irreparabel geworden ist, erscheint fraglich.

Ein weiterer Zug in der modernen Entwicklung, der eine ernste Bedrohung der menschlichen Wohlfahrt darstellt, ist das epidemische Umsichgreifen des Gebrauchs von Narkotika. Die chemische, medizinische und pharmazeutische Forschung wird zweifellos in den nächsten Jahren in rascher Folge eine Reihe von neuen Drogen entwickeln, die Menschen zum Mißbrauch verleiten und die auf Körper und Geist destruktive Wirkung ausüben.

Den Mißbrauch von Drogen zu bekämpfen, ist sehr schwierig. Enge internationale Zusammenarbeit ist erforderlich, hinsichtlich Produktion wie Distribution. Aber auch im Falle einer solchen Zusammenarbeit hat sich eine Grenzkontrolle des illegalen Handels mit Narkotika als wenig effektiv erwiesen. Und bei der weiteren Entwicklung von Wissenschaft und Technik muß man wahrscheinlich damit rechnen, daß die technische Herstellung von Drogen, höchst gefährlichen Drogen, die zum Mißbrauch verleiten, immer einfacher werden wird, so daß die Herstellung in Laboratorien ohne komplizierte Ausrüstung erfolgen kann, was natürlich die Möglichkeit der Kontrolle weiter erschwert.

Viele der Gefahren, die ich aufgezählt habe, sind einzigartig in der Geschichte der Menschheit. Das gilt von der Bevölkerungsexplosion, von der Vergiftung unseres ökologischen Milieus, von der epidemischen Ausbreitung des Gebrauchs von Narkotika.

Das Wettrüsten hat jetzt Dimensionen angenommen, die ungeheure Mengen von finanziellen Hilfsmitteln einer vernünftigen Anwendung im Dienste der Menschheit entziehen. Gleichzeitig ist es offenbar, daß diese Anhäufung militärischer Arsenale auf längere Sicht das Risiko einer neuen, noch furchtbareren Weltkatastrophe wesentlich erhöht. Dazu kommen die besonderen Gefahren, die von der Anhäufung und der möglichen Anwendung der immer mehr verfeinerten chemischen und biologischen Kampfmittel drohen. Sie sind dramatische neue Schrecken, die sich am Horizont unserer Zeit abzeichnen.

Einer meiner Freunde traf Bertrand Russell wenige Monate vor seinem Tod. Russell war bei dieser Begegnung noch voll und ganz im Besitz seiner geistigen Kapazität. In ganz sachlicher Weise kalkulierte er die Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Menschheit das Ende des 20. Jahrhunderts überleben werde, auf 50 Prozent. Andere erfahrene Experten haben mir Schätzungen des Risikos der Vernichtung der Menschheit mitgeteilt, die sich auf derselben Zahlenebene bewegen. Niemand hat das Risiko als gering beurteilt.

Legt man all dies zusammen, kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die Situation der Menschheit tatsächlich verzweifelter ist als je zuvor. Nicht nur Fortschritt und Glück sind in Frage gestellt, sondern nachgerade die Existenz.

Ich erhebe den bestimmten Anspruch, damit nicht dem Pessimismus Ausdruck zu geben, sondern dem Realismus. Der Mut, der jetzt von uns gefordert ist, ist der Mut der Verzweiflung, nicht der eines illusorischen, opportunistischen Optimismus.

Ich bin auch nicht Defätist. Die Entwicklung läßt sich wenden, die schrecklichen Gefahren lassen sich in herausfordernde Chancen verwandeln.

Die Geschichte ist nicht blindes Schicksal, sie wird von Menschen bestimmt. Wenn wir unsere Völker, unsere Mitmenschen dahin bringen könnten, die Gefahren einzusehen — die Gefahren, die letzten Endes alle auf Unwissenheit und auf Verrat an den Idealen beruhen —, dann könnten sie, dann könnten wir alle unsere Regierungen zwingen, einen anderen Kurs einzuschlagen.

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