FORVM, No. 143
November
1965

Virtuose des Lebens

Zur erstmaligen Publikation der Originalausgabe von Giacomo Casanovas Memoiren

Von Casanova (Johann Jakob de Seingalt) heißt es in der altehrwürdigen siebenten Originalauflage des von Brockhaus herausgegebenen „Conversations-Lexicons“ (1830), er sei „bekannt durch seine Memoiren als ein origineller, lebenskräftiger und lebensfroher Mann, der fast in allen Lagen wie unter allen Ständen und in allen Hauptstädten Europas eine anziehende Rolle gespielt hat. Nicht weniger anziehend hat Casanova selbst seine bunten Abenteuer in den erst nach seinem Tode auszugsweise übersetzten ‚Memoiren‘ geschildert“. Der in engem Druck gehaltene Artikel umfaßt nahezu drei Seiten und schließt, nach einer zusammenfassenden Darstellung von Casanovas Lebenslauf, mit den Worten: „Seine ‚Memoiren‘ selbst, auf die der Fürst Karl von Ligne zuerst aufmerksam machte, sind ein großer Spiegel der Sitten jener Zeit, in welcher Frivolität oft sich paarte mit Kraft und Verstand. Das Leben in Italien und das bunte Treiben in den großen Städten Europas, wie es war vor der Französischen Revolution, erblickt man wohl nirgends so lebendig und treu, oft nackt, dargestellt, als in diesen Selbstbekenntnissen eines gescheiten Epikuräers.“

In der zehn Jahre vorher erschienenen fünften Originalausgabe des gleichen „Conversations-Lexicons“ wird Giacomo Casanova mit keinem Wort genannt; in einem kleinen Artikel von wenigen Zeilen ist seines Bruders Franz gedacht, der sich als Schlachtenmaler einen Namen machte. Der Grund für diese Lücke in dem zuverlässigen Nachschlagewerk ist ganz einfach festzustellen: Im Jahre 1820, als diese fünfte Auflage herauskam, war „Die Geschichte meines Lebens“ von Casanova noch gar nicht publiziert; die erste Ausgabe dieser Memoiren erschien in den Jahren 1822 bis 1828. Kann es einen deutlicheren Beweis dafür geben, daß Casanova nicht wegen seiner Taten und seines abenteuerlichen Lebenslaufes an sich berühmt wurde, sondern deshalb, weil er seine Erlebnisse und Reflexionen in einem Œuvre festhielt, das zu den meistgenannten der Weltliteratur gehört, in Wirklichkeit aber das unbekannteste berühmte Buch der Welt geblieben ist? Er selbst wäre wohl am meisten von der Tatsache überrascht gewesen, daß er durch die Beschreibung seines Lebens berühmter wurde, als er es durch sein abenteuerliches Leben bereits zu sein glaubte. Seinen schriftstellerischen Ehrgeiz stillte er durch die Veröffentlichung von Gedichten, Romanen, Operntexten und gelehrten Abhandlungen, während er seine Lebenserinnerungen, die er in seinen letzten Jahren in der böhmischen Abgeschiedenheit von Graf Waldsteins Schloß in Dux niederschrieb, zunächst gar nicht zu veröffentlichen gedachte. Es bedurfte der dringenden Zusprache des Fürsten de Ligne, daß Casanova seine Memoiren weder verbrannte noch purgierte. In einem Brief des Fürsten de Ligne an Casanova heißt es: „Sie sind bisher doch ganz gut gefahren, ohne kastriert worden zu sein; warum also wollen Sie Ihren Erinnerungen dieses Schicksal bereiten? Lassen Sie die Geschichte Ihres Lebens wie sie ist. Zwischen heute und dem Zeitpunkt ihres Erscheinens werden auch noch die paar Menschen sterben, die unter allen Helden Ihrer Anekdoten noch am Leben sind ... Wir besäßen nicht die ‚Histoire amoureuse des Gaules‘, wenn Bussy, wie Sie, den Wunsch gehegt hätte, seine Memoiren zu verbrennen. Halten Sie es doch wie ich: Verkaufen Sie sich noch bei Lebzeiten. Reisen Sie mit Ihrem Manuskript zu den Brüdern Walther nach Dresden; lassen Sie sich von ihnen eine jährliche Zahlung von mindestens hundert Dukaten zusichern ... und wenn Sie dann, in zwanzig Jahren, von der Bühne des Lebens abtreten, so wird das Manuskript der Memoiren einen buchhändlerischen Wert von mindestens vier- bis fünftausend Dukaten haben ...“

Daß Casanova zwar den ersten, nicht aber den zweiten Rat befolgte, sollte nicht ohne Folgen bleiben. Casanovas Memoiren wurden zu einem weltberühmten Buch, sie erlebten zahllose Ausgaben und Übersetzungen, sie riefen eine schon unübersehbare Zahl von Arbeiten über das Werk hervor, in denen enragierte Casanovisten die literarischen Spuren des großen Abenteurers in der Realität geschichtlichen Lebens verfolgten und sich nicht selten in Spitzfindigkeiten der Interpretation ergingen — obschon bis vor kurzem niemand das Originalmanuskript kannte. Der bedenkliche Ruf, mit dem Casanova in die Weltliteratur eingegangen ist, das schiefe Bild, das man sich bisher von ihm machte — all das ist das Resultat einer großen Fälschung und eines hundertvierzigjährigen Rätselratens, das erst im Jahre 1960 sein Ende durch ein verlegerisches Unternehmen fand, das zu einem kulturgeschichtlichen Ereignis wurde: Der Verlag F. A. Brockhaus in Wiesbaden begann mit der Veröffentlichung der originalen Fassung von Giacomo Casanovas „Histoire de ma vie“ auf Grund des französischen Manuskriptes. Damit fand die Odyssee eines literarischen Werkes ein Ende, die an Abenteuerlichkeit eines Casanova wahrhaft würdig war. Casanova bot sein Manuskript nicht den Brüdern Walther in Dresden an; es kam vielmehr erst nach seinem Tode als Erbe in die Hände seines Großneffen Carlo Angiolini. Erst im Jahre 1820 bot in dessen Auftrag ein Friedrich Gentzel dem Verleger F. A. Brockhaus das Manuskript zum Kauf an. Zu Beginn des Jahres 1821 gelangten die Blätter in den Besitz des deutschen Verlegers, der zwar sogleich den Wert dieses Dokuments erkannte, gleichzeitig aber einsah, daß sein integraler Text in der damaligen Zeit Anstoß erregen würde. So erschien in den Jahren 1822 bis 1828 eine erste Ausgabe in deutscher Sprache, die gekürzt und „gesäubert“ war, indem der Verleger es dem Übersetzer Wilhelm von Schütz überließ, Stellen, an denen die deutschen Leser Anstoß nehmen konnten, wegzulassen. Der große Erfolg dieser zwölfbändigen deutschen Edition hatte zur Folge, daß diese alsbald ins Französische rückübersetzt wurde, was nun F. A. Brockhaus veranlaßte, die französische Originalausgabe zu publizieren. Mit der Herausgabe wurde Jean Laforgue, ein Französischprofessor in Dresden, betraut. Da die Bände dieser Ausgabe von der Zensur beanstandet wurden, mußte der Erscheinungsort mehrfach gewechselt werden. Auf diese in den Jahren 1826 bis 1838 erschienene sogenannte „Original-Ausgabe“ gingen alle späteren Editionen zurück. In den folgenden Jahrzehnten wurde eine ganze Anzahl von Auswahlbänden, Bearbeitungen und Editionen veranstaltet, und gleichzeitig kam die Diskussion über Casanova in Gang, etablierte sich eine ganze Casanova-Forschung, immer — man vergesse das nicht — auf der Grundlage eines ungesicherten Textes.

Erst seit dem Erscheinen der Casanova-Edition des Brockhaus-Verlags, des „Ur-Casanova“ sozusagen, in den Jahren 1960 bis 1962, ist es möglich, das Gespräch über Casanova auf einer konkreten Basis zu führen. In vornehmes rotes Leinen gekleidet, mit Gold fein verziert, präsentiert sich diese Edition, an welcher auch der Pariser Verlag Plon beteiligt ist, auf Persia-Dünndruckpapier in sechs ansprechenden Doppelbänden. Zu Beginn des ersten Bandes legt der Verlag die der Ausgabe zugrunde liegenden Editionsprinzipien fest: Der Originaltext des Manuskripts wird unverändert abgedruckt, nur die Orthographie und die Interpunktion sind dem heutigen Sprachgebrauch des Französischen angeglichen; an Stelle der ursprünglichen Einteilung in zehn ungleiche Bände wurde die schon von Laforgue vorgenommene Gliederung in zwölf Bände beibehalten; über mehrere entweder in zwei Fassungen vorhandene oder in anderen Fällen im Originalmanuskript fehlende Kapitel erhält der Leser genaue Auskunft. Am Schlusse eines jeden Bandes sind Anmerkungen publiziert, die dem Leser historische, kulturelle und geschichtliche Tatbestände der Epoche Casanovas erläutern, während philologische Anmerkungen die Lektüre erleichtern und in weiteren Hinweisen allfällige chronologische Unrichtigkeiten, die auf einen Gedächtnisfehler des Verfassers zurückgehen, richtiggestellt sind. Am Schluß des letzten Bandes findet sich außerdem eine Zeittafel, die uns in der geschichtlichen Chronologie das Leben Casanovas überblicken und gleichzeitig erkennen läßt, wo die „Histoire de ma vie“ mit der Realität übereinstimmt und wo sie von ihr abweicht. Ein zweispaltig gesetzter, 168 Seiten umfassender Index schließlich ermöglicht es, das fast unerschöpfliche Memoirenwerk nach Personen, Orten und Sachen aufzuschlagen und Beziehungen nachzuspüren, die sonst kaum oder erst nach langem Suchen aufzufinden wären.

Am wesentlichsten scheint uns, daß diese Urfassung die originale Sprache Casanovas bietet, wodurch nun das Zeitkolorit des Dixhuitième in seiner ganzen Zartheit und Differenziertheit zum Ausdruck kommt, weil sich im Sprachgeist stets auch der Zeitgeist spiegelt. Aber nicht nur die Atmosphäre der damaligen Epoche kommt klarer zum Ausdruck, sondern die Persönlichkeit Casanovas selber tritt deutlicher hervor, und sein bisher sehr einseitig gezeichnetes Portrait erfährt in manchen Zügen eine entscheidende Korrektur. Arthur Hübscher, an der Herausgabe der Urfassung maßgebend beteiligt, wies auf die Notwendigkeit der Korrekturen am Casanova-Bild hin. Casanova war Venezianer und Sohn des Ancien Régime, als solcher ein guter Katholik und weit entfernt von den Ideen der Französischen Revolution. Jean Laforgue hingegen war ein kirchenfeindlicher Vertreter des jakobinischen Geistes, der den ihm vorliegenden Text entsprechend umgestaltete. Im Vorwort zu seiner Ausgabe hatte Laforgue erklärt, es gehe ihm darum, die zahlreichen grammatikalischen Fehler Casanovas zu verbessern, gleichzeitig aber „verlange der sittlich höher stehende Geschmack seiner Zeit, alle solchen Stellen auszulassen oder zu verschleiern, die das Zartgefühl der Zeitgenossen verletzen könnten“. Seine Hauptsorge sei indessen doch gewesen, „de n’ôter aux situations que leur crudité en plaçant sur les images trop voluptueuses un voile qui n’enlève rien au piquant de la narration“. In der Praxis sah es allerdings so aus, daß Casanovas Sprache — wie wir nun an Hand des Urtextes feststellen können — überhaupt keiner Korrektur bedarf und daß auch die angeblich anstößigen Stellen nicht „verschleiert“ zu werden brauchten, im Gegenteil: Während Casanova stets in knapper Klarheit auch heikle Stellen so beschreibt, daß sie keinen Anstoß erwecken, werden sie durch Laforgues sogenannte Verschleierung in eine Atmosphäre raffiniert-schwüler Lüsternheit verkehrt. Wenn manche Szenen der bisherigen Editionen zynisch oder erotisch überhitzt wirkten, so lag das nicht an Casanova, sondern an Laforgue. „Diese Eingriffe“, sagte Hübscher, „haben nicht nur die geistige Persönlichkeit Casanovas verfälscht, sie haben auch das Schwergewicht der Memoiren in oft unwägbarer Weise vom Geistig-Sachlichen auf das Persönlich-Erotische verlagert. Und selbst hier, im Persönlichen, ist etwas Seltsames geschehen: Hatte Laforgue sich in den ersten Bänden in der Tat bemüht, da und dort drastische Stellen zu ‚expurgieren‘, so ging er in den späteren auf unbegreifliche Weise dazu über, erotische Schilderungen auszuschmücken und zu untermalen, mehr Casanova zu sein als Casanova.“

Ein einziges Textbeispiel möge diesen Sachverhalt illustrieren. In der im Verlag Langen-Müller (München) in sechs Bänden erschienenen Ausgabe „Casanova: Memoiren, vollständig übertragen von Heinrich Conrad“, die auf die mangelhafte Edition Laforgues zurückgeht und bisher als eine der besten deutschen Ausgaben galt, findet sich im 17. Kapitel des ersten Bandes (die Numerierung stimmt nicht mit der Original-Ausgabe überein) die nachstehende zufällig herausgegriffene Stelle:

Ich begab mich sehr frühzeitig zu meiner Schönen, und obwohl es gefährlich war, zu lange beisammen zu bleiben, beschäftigte uns diese Sorge wenig, oder vielmehr, wenn wir daran dachten, so geschah es nur deshalb, um die wenigen Augenblicke, die uns die Liebe noch ließ, besser zu benützen.

Nachdem wir bis zur Erschöpfung alles durchgekostet hatten, was die lebhafteste Zärtlichkeit an süßer Wollust zwei jungen, starken und leidenschaftlichen Verliebten verschaffen kann, kleidete sich meine junge Gräfin an, zog ihre Schuhe an, und indem sie ihre Pantoffel küßte, sagte sie, sie werde sich gewiß nur im Tode von ihnen trennen. Ich bat sie um eine Locke von ihrem Haar, die ich augenblicklich erhielt. Ich ließ daraus das Gegenstück zur Schnur von den Haaren der Frau F. verfertigen, die ich noch trug.

In der im F. A. Brockhaus-Verlag erschienenen Urfassung der „Histoire de ma vie“ (Volume 2, Chapitre VIII) lautet die entsprechende Stelle folgendermaßen:

Il y avait du risque à passer tout le matin tête à tête avec l’ange qui allait me quitter; mais que serait l’amour s’il ne bravait les risques? La certitude où nous étions que ces heures-lá étaient nos dernières nous fit faire des efforts pour les rendre véritablement les dernières de notre vie; mais l’amour heureux n’est jamais devenu suicide. Elle m’a vu l’âme distillée en sang, et elle voulut croire qu’elle était mélée avec une partie de la sienne.

Apres s’être habillée elle mit ses souliers, et elle baisa ses pantoufles qu’elle était sûre de conserver pour tout le reste de ses jours. Je lui ai demandé des cheveux pour m’en faire une tresse pareille à celle que je conservais encore pour ne pas perdre le souvenir de M. F.

Das Verfahren, nach welchem Casanovas Schilderungen verfälscht wurden, ist hier evident: Jener Passus, in welchem Casanova über das Wesen der Liebe in der Art eines Philosophen und Aphoristikers des 18. Jahrhunderts Betrachtungen anstellt, ist bei Laforgue/Conrad durch eine Anspielung auf ein Höchstmaß an Sinnenfreuden ersetzt, die durch die Wahl der Ausdrücke und eine nur indirekte Benennung viel eher an eine laszive Phantasie appelliert als der ursprüngliche Text Casanovas, der in der deutschen Übertragung so lautet:

Es war gefährlich, den ganzen Morgen in traulichem Beisammensein mit dem Engel zu verbringen, der mich nun verlassen sollte; aber was wäre das für eine Liebe, die Gefahren nicht trotzt? Wir waren uns vollauf bewußt, daß diese Stunden unsere letzten gemeinsamen waren, und so bemühten wir uns nach Kräften, sie wirklich zu den letzten unseres Lebens zu machen; aber glückliche Liebe ist noch niemals selbstmörderisch geworden. Sie sah, wie meine Seele zu Blut wurde, und wollte glauben, daß sie mit einem Teil der ihren vermischt war.

Nachdem sie in die Kleider geschlüpft war, zog sie die Schuhe an und küßte die Pantoffel, die sie unbedingt für den Rest ihres Lebens aufbewahren wollte. Ich bat sie um einige ihrer Haare, um mir daraus ein ähnliches Geflecht zu machen wie das aus denen von Signora F., das ich noch immer aufhob, um sie nicht ganz zu vergessen.

Diese sich eng an die Urfassung haltende Übertragung ins Deutsche stammt von Heinz von Sauter. Sie ist der ersten authentischen deutschen Ausgabe von Giacomo Casanovas „Geschichte meines Lebens“ entnommen, die vor kurzem im Propyläen-Verlag (Berlin) zu erscheinen begonnen hat. Bisher liegen die ersten vier Bände mit 407, 361, 395 und 399 Seiten vor. Die Edition ist auf zwölf Bände angelegt und erscheint als Luxus-Ausgabe in Ganzleder und auch als gewöhnliche Ausgabe in einem apart grünen Leineneinband; die Ausstattung der Bände, deren jeder 20 Illustrationen in Kupfertiefdruck nach zeitgenössischen Ansichten, Stichen und Bildern enthält, besorgt Gotthard de Beauclair. Als Herausgeber zeichnet Erich Loos, Ordinarius für Romanistik an der Freien Universität Berlin, verantwortlich, der auch eine ausführliche Einleitung zum ersten Band verfaßte, dem außerdem ein Essay von Peter Quennell, bekanntgeworden durch ein kürzlich ebenfalls deutsch erschienenes Shakespeare-Buch, beigegeben ist. Zu jedem Kapitel sind notwendig erscheinende Erklärungen am Ende jedes Bandes als Anmerkungen gegeben; sie enthalten auch kurze Hinweise auf die in den Memoiren genannten Personen, soweit diese identifizierbar sind. Ein alphabetisches Gesamtverzeichnis aller in den zwölf Bänden vorkommenden Personen und Orte am Schluß des Werkes wird das Benutzen der Ausgabe dem historisch und literarisch interessierten Leser erleichtern.

Die Ganzheit von Casanovas Persönlichkeit erfaßt Erich Loos in seiner vorzüglichen Einleitung. Er schildert zunächst in konzentrierter Weise die Textgeschichte dieser Memoiren, um dann einen Abriß von Casanovas Leben zu zeichnen, das er in die größeren kulturgeschichtlichen Zusammenhänge jener Zeit stellt. Abschließend würdigt der Herausgeber den venezianischen Abenteurer als Schriftsteller und Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts, der „die Selbsterkenntnis als die Basis der Erkenntnis betrachtet“. Der Essay von Erich Loos vermittelt dem Leser in konzentrierter Dichte ein vorzügliches Bild von Casanovas Persönlichkeit und Werk und bildet damit eine denkbar geeignete Einführung in dieses Œuvre, das zu den faszinierendsten der Weltliteratur gehört, weil sich in ihm die buntesten Farben nicht nur jenes Jahrhunderts spiegeln, von dem Talleyrand sagte, wer es nicht gekannt habe, habe nicht erfahren, wie süß das Leben sei, sondern auch, weil sich in ihm ein Mann zeigt, der in hohem Maße diese Epoche gekostet hat und sie repräsentiert.

Casanovas Leben deckt sich mit drei Vierteln des achtzehnten Jahrhunderts, einer kultur- und welthistorisch bewegten Epoche. Im gleichen Jahre 1725, in welchem Casanova geboren wurde, starben Peter der Große und der Komponist Scarlatti. Einige weitere Ereignisse, die sich zu Lebzeiten Casanovas zutrugen, seien stichwortartig erwähnt: Polnischer Erbfolgekrieg (1733-38) Geburt, Triumph und Tod der Marquise de Pompadour, Zweiter Schlesischer Krieg, Siebenjähriger Krieg, Geburt Herders, Goyas, Goethes, Mozarts, Beethovens und Napoleons, Tod Johann Sebastian Bachs, Maria Theresias und Friedrichs des Großen und schließlich der Ausbruch der Französischen Revolution, die das Dixhuitième mit seinem ganzen Lebensstil hinwegfegte. An all dem hatte Casanova mehr oder weniger direkten Anteil: Er verkehrte an den Höfen und im Kreise berühmter Schriftsteller und Gelehrter, unterhielt sich ebenso mit Voltaire wie mit Friedrich dem Großen, und es wird berichtet, daß er auch bei der Uraufführung des „Don Giovanni“ in Prag dabei war.

Aus dem Lebenslauf, der sich bis zum Jahre 1774 auf Grund der Memoiren in allen Details verfolgen läßt, seien nur einige wesentliche Stationen erwähnt: Giacomo Casanova wurde am 2. April 1725 als Sohn eines Schauspielerehepaares in Venedig geboren, in der Stadt, die Mittelpunkt seines Lebens blieb, von der er zu seinen Fahrten durch ganz Europa aufbrach und wohin er stets wieder zurückkehrte. Im Alter von fünfzehn Jahren erwarb er sich in Padua den Doktortitel beider Rechte. Im Jahre 1740 erhielt er die Tonsur und ein Jahr später die niederen Weihen. 1743 begann das unstete Wanderleben Casanovas, das ihn zunächst von Kalabrien über Neapel nach Rom führte, wo er sich einer amourösen Affäre wegen um die Gelegenheit brachte, eine Karriere im Dienste des Kardinals Acquaviva anzutreten. Im Jahre 1744 verzichtete er auf das geistliche Gewand, um sich dem Soldatenhandwerk zuzuwenden, das ihn im Dienste der venezianischen Republik nach Korfu und wahrscheinlich auch nach Konstantinopel führte. Als Geigenspieler und Günstling eines Senators trieb er dann einige Jahre sein verführerisches Wesen in der Heimatstadt, bis er der venezianischen Inquisition verdächtig wurde und es vorzog, ins Ausland zu verschwinden. Über Oberitalien und Lyon, wo er Freimaurer wurde, kam er nach Paris, wo er sich in den glänzendsten Kreisen bewegte. Im Jahre 1752 tauchte er in Dresden auf, über Wien kehrte er nach Venedig zurück, wo er 1755 wegen Beschäftigung mit den Geheimwissenschaften und Beleidigung der Religion unter den Bleidächern eingekerkert wurde. Am 31. Oktober 1756 gelang ihm die, von ihm schon zu Lebzeiten dargestellte, berühmte Flucht. Aber auch in Paris, wo er sich wieder einfand, machte sich dieser Spieler verdächtig. In den kommenden Jahren streifte er kreuz und quer durch Europa.

Eine Wende bedeutete der Aufenthalt 1763/64 in London, wo er auch als Verführer eine erste empfindliche Schlappe erlitt. Auf seinem weiteren Weg kommt er an den Hof Friedrichs des Großen, dessen Kadettenerzieher zu werden er ablehnt, versucht ohne Erfolg sein Glück am Hofe der Zarin Katharina II. und findet größere Möglichkeiten in Warschau, das er einer Duellaffäre wegen verlassen muß. In Wien geriet er — begreiflicherweise — mit der Keuschheitskommission in Konflikt, über Paris gelangte er nach Spanien, wo er in Barcelona eingekerkert wurde; die unfreiwillige Muße benützte er dazu, ein dreibändiges historisches Werk über die venezianische Politik zu schreiben. Immer mehr mit literarischen Arbeiten beschäftigt, verbrachte er einige Zeit in Florenz, später in Görz und Triest. Mit der Schilderung dieses letzten Aufenthaltes brechen die Memoiren ab. Im Jahre 1776 trat er als „Confidente“ in den Dienst der venezianischen Staatsinquisition, doch wurde er einer Satire auf einen Patrizier wegen erneut und diesmal endgültig aus seiner Vaterstadt verbannt. Er kam nochmals nach Paris und von da nach Wien, wo er 1784 Sekretär des venezianischen Gesandten wurde. Nach dessen Tod trat er als Bibliothekar in den Dienst des Grafen von Waldstein, in dessen Schloß Dux im nördlichen Böhmen er, mit einer umfangreichen Korrespondenz und — seit 1790 — mit der Niederschrift seiner Memoiren beschäftigt, die letzten Jahre bis zu seinem Tode am 4. Juni 1798 verbrachte.

Dieses ungemein reiche und vielseitige Leben, das Casanova kreuz und quer durch Europa, und vom Spätbarock über die lichte Epoche der Aufklärung und des tändelnden Rokokos bis zu jenem gewaltigen Einschnitt führte, den die Französische Revolution (von der er übrigens absolut nichts begriff) darstellt, bildet den Rohstoff für sein Memoirenwerk. Man hat immer wieder die Frage nach der Glaubwürdigkeit dieser Berichte gestellt. Manche Einzelheiten liegen bis heute ungeklärt im Dunkel, manche Episoden ließen sich als Erzeugnis der Erfindung nachweisen („man glaubt dies schon der Art der Erzählung anmerken zu können, wenn etwa der Bericht seine trockene, klare Kontur verliert und an den Rändern verschwimmt“, bemerkte dazu Richard Alewyn), aber viele Geschehnisse in seinem Bericht ließen sich dokumentarisch belegen, und nicht selten sind es gerade diejenigen, die am abenteuerlichsten anmuten. Daß Casanova eine solche Präzision in der Vergegenwärtigung von Geschehnissen erzielte, die bis zu fünfzig Jahre zurücklagen, war einerseits seinem stupenden Erinnerungsvermögen, anderseits seinen Tagebüchern, in denen er alles Wissenswerte notierte, zuzuschreiben. Die Schonungslosigkeit, mit der er seine eigenen Schwächen und Versager zugibt, läßt den Schluß zu, daß er kaum mit Absicht und nach einem raffinierten Plan die Wirklichkeit verfälscht hat.

Die Frage nach der Glaubwürdigkeit hat im übrigen nicht das geringste mit dem künstlerischen Wert der Memoiren zu tun, die eine literarische Leistung höchsten Ranges sind. Casanova war ein großer Schriftsteller, der seine erstaunliche Beobachtungsgabe mit einem ebenso anschaulichen Darstellungsstil zu verbinden wußte, und der mit seiner überwältigenden Menschenkenntnis, seinem psychologischen Scharfsinn und seiner Kunst des literarischen Portraits in der großen Tradition der französischen Moralisten steht. Er war ein Mann von hoher Bildung, dem beispielsweise die Texte der Antike selbstverständlicher Besitz waren, er war aber auch auf den verschiedensten Wissensgebieten seiner Zeit, in die er sich oft unverhältnismäßig rasch einarbeitete, beschlagen, und da er — ein Dilettant im höchsten und schönsten Sinn des Wortes — außerdem auch das Spiel der geistreichen Konversation beherrschte, durfte er sich ebenso einen „Philosophen“ (im Sinne des 18. Jahrhunderts) wie einen Edelmann nennen und brauchte den Umgang mit so großen Geistern, wie mit Metastasio, Rousseau, Voltaire, Haller, d’Alembert, Mengs, Friedrich dem Großen und Katharina II. von Rußland, nicht zu scheuen. Daß Casanova sich zu Recht einen Schriftsteller nannte, zeigt die imponierende Liste der Schriften, die er neben seinen Memoiren verfaßte. Seinen Platz in der Weltliteratur als „ein Erzähler von dem heißen Atem, der trockenen Glut Stendhals“ (Alewyn) aber verdankt er seiner Autobiographie, die den denkbar größten Gegensatz zu einer anderen großen Selbstdarstellung jener Zeit, zu Rousseaus „Confessions“ bildet, deren Selbstquälerei und verschwommene Sinnlichkeit ihm sehr fern waren. Casanova war ein hellwacher Kopf, ein echtes Kind des Zeitalters der raison, ohne die geringsten Einflüsse der aus dunklen Tiefen emporsteigenden ersten Anzeichen der Romantik.

Als Mann von Welt genoß Cssanova sein Abenteurdasein ebenso bewußt wie die Liebe, die im Mittelpunkt seiner Existenz stand. „Liebe ist für ihn natürlich ein Erlebnis der Sinne, das er pflegt mit einem unbeschwerten Gewissen, wie es so naiv vielleicht nur unter südlicher Sonne gedeiht, ohne den forçierten Libertinismus, mit dem am Anfang des Jahrhunderts die Roues der Régence gegen die Fesseln der Bigotterie aufbegehrten, aber auch ohne die schwelende Lüsternheit des alternden Rokokos“, erkannte Richard Alewyn sehr richtig. Es gibt kaum ein Liebesabenteuer Casanovas, dem nicht ein Spielelement innewohnt, war doch die Verführung, ganz im Sinne seiner Zeit, das Hauptziel des Kavaliers, der seine Angebetete dazu bringen mußte, dieselbe Beglückung im gemeinsamen Genuß zu finden. „Meine Liebe wuchs im Verhältnis zu den Schwierigkeiten, die sich meiner Voraussicht nach dem Erfolge entgegenstellten“, schrieb Casanova einmal, den jede neue Begegnung in die gleiche entflammte Glut versetzte, der aber seine Geliebten, wenn er ihrer überdrüssig wurde, nicht einfach sitzen ließ, sondern für sie nach Möglichkeit einen passenden Freund oder Ehemann suchte. Hierin unterscheidet er sich zutiefst von Don Juan. Um es mit K. H. Kramberg überspitzt auszudrücken: „Don Juan haßte die Frauen und wütete unter den Weibern, weil er die Eine, die Reine, die unerreichbar Göttliche wollte. Der liebestüchtige Casanova war in jeder Lebenslage bereit und fähig, in einem Gänschen die Göttin der Stunde zu sehen.“

Die Schilderung seiner amourösen Affären nimmt zwar einen beträchtlichen Teil seiner Memoiren ein, doch erschöpfen sich diese nicht darin. Dadurch, daß der Held mit den verschiedensten Landstrichen und mit Menschen aller Art und sozialen Schichten in Berührung kam, weitet sich seine Selbstdarstellung zu einem Spiegelbild seiner Epoche. Casanova läßt uns ebenso einen Blick in fürstliche Boudoirs wie in verrufene Viertel tun, er führt uns in die Sphäre der Könige und der Künstler, der Politik wie des Theaters. Wie sehr die damalige europäische Oberschicht, in der sich Casanova gleich zahllosen anderen (weniger begabten) Abenteurern bewegte und deren gemeinsame Sprache das Französische war, eine gesellschaftliche Internationale bildete, geht aus wenigen Werken jener Zeit so deutlich hervor, wie aus der „Geschichte meines Lebens“. Der Glanz einer scheinbar unbeschwerten, an Freuden und Genüssen reichen Zeit liegt über diesem Werk, dessen Verfasser trotz mancher persönlich erlittenen Unbill die Schattenseite der Epoche nicht zu erkennen vermochte; ihm ging, wie den meisten seinesgleichen, jegliches soziale Mitleid und Verständnis ab, und die aus diesem Mangel resultierende bedrohliche historische Entwicklung, die zur Französischen Revolution und damit zum Untergang seiner Epoche führen sollte, vermochte er ebenso wenig zu erkennen. Giacomo Casanova überlebte den Untergang des Ancien Régime um neun Jahre. Diese letzten Jahre brachte er damit zu, in der Abgeschiedenheit des Schlosses von Dux seine Lebensgeschichte niederzuschreiben. „Heute, im Jahre 1797, im Alter von zweiundsiebzig Jahren, da ich sagen kann ‚vixi‘, obwohl ich noch atme, wüßte ich keinen angenehmeren Zeitvertreib, als mich mit meinen eignen Erlebnissen zu unterhalten“, schrieb Casanova in der Vorrede zur Geschichte seines Lebens. Aus diesem Werk, das er zu seiner Selbstergötzung geschrieben hat, aber leuchtet in beglückend buntem Schein und in dichter Lebensfülle eine Epoche auf, deren Anmut und Heiterkeit wir nicht ohne ein Gefühl leiser Sehnsucht zu betrachten vermögen.

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