FORVM, No. 256
April
1975

Wird Italien faschistisch?

Interview mit Enzo Santarelli

Ist Italien heute in der Situation von 1922, vor Mussolinis Marsch auf Rom? Winfried Roth stellte diese Frage dem Faschismusexperten der KPI, Professor Enzo Santarelli.

Enzo Santarelli
Gibt es eine faschistische Gefahr in Italien?

Santarelli: Die Gefahr besteht in der Konsolidierung einer autoritären Bewegung, die sich den Weg zur Spitze des Staates freimacht, und in der subversiven Tätigkeit der MSI, von „Ordine Nero“ und ähnlichen Gruppen. So viele Schläge der Neofaschismus auch seit 1969 unserem Land versetzt hat — gerade diese „Strategie der Spannung“ hat dazu beigetragen, daß seine wahren Ziele klar wurden und er heute bei der großen Mehrheit der Italiener diskreditiert ist. Sogar die großbürgerliche Presse scheint sich zum Antifaschismus bekehrt zu haben. Unsere Gewerkschaften und alle demokratischen Kräfte unseres Landes — Sozialisten, Kommunisten und Katholiken — werden jeden autoritären Versuch oder einen Staatsstreich zu verhindern wissen.

Halten Sie einen Vergleich zwischen der Situation von 1974 und der von 1922 für berechtigt?

Santarelli: Meiner Meinung nach kann man, wenn überhaupt, einen solchen Vergleich nur mit großer Vorsicht ziehen. 1922 wußte man noch nicht deutlich, was vom Faschismus zu erwarten war. Die demokratischen und sozialistischen Kräfte waren gespalten und mit sich selbst beschäftigt. Die Krise war damals eine strukturelle und nicht eine konjunkturelle wie heute. Der Faschismus stützte sich damals auf eine teilweise bewaffnete Massenbewegung (vor allem in Norditalien), die entscheidend für den Ausgang der politischen Auseinandersetzung war. Heute ist die Unzufriedenheit mit dem schlechten Funktionieren der Institutionen, verglichen mit der Zeit von 1919 bis 1922, eher eine Randerscheinung. Vor allem sind heute Bewußtsein und Einheit der Arbeiterbewegung größer als damals.

Was ist schuld am Erfolg des italienischen Neofaschismus in den letzten Jahren?

Santarelli: Bei uns funktionieren die staatlichen Institutionen entweder gar nicht oder schlecht, ebenso wie die Dienstleistungen des Staates. Die Regierung ist nicht energisch und nicht ehrlich genug. Dann hat in Italien die „kommunistische Frage“ eine besondere Bedeutung. Bis heute diente der Antikommunismus dazu, das Machtmonopol der Democrazia Cristiana zu sichern. All das nützt die rechtsextreme Opposition für sich aus. Sie bekämpft sowohl das gegenwärtige „System“ als auch eine „Öffnung“ dieses Systems, wie sie von den linken Katholiken, den Sozialisten, den Gewerkschaften und der KPI gewünscht wird. In der Tat hat die MSI ihren größten Wahlerfolg 1972 unter einer centro-destra- (Zentrum-Rechts-) Regierung errungen, die die Sozialisten aus der Regierung ausgeschlossen hatte — zu diesem Zweck wurden (was es bis dahin im Nachkriegs-Italien nie gegeben hatte) vorzeitige Parlamentswahlen angesetzt, und Almirante zog natürlich daraus seinen Vorteil.

In welchem Sinn ist die MSI eine faschistische Organisation?

Santarelli: Auf dem Gründungskongreß der MSI 1946 waren ausschließlich ehemalige Anhänger der „Repubblica Sociale“ und Potentaten des früheren Faschismus anwesend. Auch später setzte sich die MSI-Führung aus ehemaligen Funktionären der faschistischen Partei und des faschistischen Staates zusammen. In allen programmatischen Erklärungen der MSI wird die Rückkehr zum Ständestaat gefordert. Die MSI verfolgt dieselbe zweigleisige Taktik wie seinerzeit Mussolini: einerseits bedient sie sich eines parlamentarischen Mäntelchens, andererseits (wenn auch indirekt) illegaler Methoden. Die letzten Parteitage der MSI verliefen mit totalitärer Einstimmigkeit, Disziplin und Enthusiasmus. Almirante gab sich als kleiner „Duce“. Die MSI fordert offen die Revision der demokratischen Verfassung in Richtung auf einen autoritären Staat.

Warum ist der Faschismus nach seiner Niederlage 1945 wieder auferstanden?

Santarelli: Seinen eigentlichen Aufschwung nahm der Neofaschismus erst durch die institutionelle Krise und durch die Inflation in den letzten Jahren. Ansonsten ist es normal, daß in einem in gewisser Hinsicht zurückgebliebenen kapitalistischen Land wie Italien die objektiven Ursachen des Faschismus fortbestehen. Eine besondere Rolle spielen dabei die stets bei uns vorhandenen reaktionär-klerikalen Einflüsse und eine verbreitete Ablehnung der Beteiligung am politischen Leben. Die Masse der heutigen Jugendlichen ist jetzt dabei, sich von diesen Einflüssen zu befreien.

Warum ist die MSI in den unterentwickelten Regionen Italiens am stärksten?

Santarelli: Süditalien hat weder den faschistischen Terror von 1921-22 noch den antifaschistischen Widerstand 1943-45 erlebt. In Süditalien war die sozialistische, die Arbeiter- und sogar die Gewerkschaftsbewegung immer schwach oder fehlte völlig. Auch nach dem Ende des Faschismus wurde die Süditalienfrage nicht gelöst. In den Städten Süditaliens existiert ein breites Lumpenproletariat und eine Art Lumpen-Kleinbürgertum. Auf diese Schichten stützt sich die MSI. Die Verantwortung für diese Situation fällt den Versäumnissen der Regierungen zu. Italien braucht Reformen umfassenden Charakters, ein neues Regierungssystem, eine neue Wirtschaftspolitik, eine neue öffentliche Verwaltung und ein neues Schulsystem, kurz eine Politik demokratischer Beteiligung.

Was sagen Sie zur sozialen Demagogie der MSI? Gibt es einen „linken“ Neofaschismus?

Santarelli: Das letzte große Unternehmen der MSI war die Opposition gegen das Scheidungsgesetz im Mai letzten Jahres. Rechte Katholiken, ultrakonservative Kreise und Neofaschisten konnten 40 Prozent der Stimmen für sich buchen (und blieben damit in der Minderheit gegen die fortschrittliche Koalition). Wir haben es bei der MSI mit reaktionärer Demagogie zu tun. Der Neofaschismus bediente sich stets der Parole „je schlechter, desto besser“. Anhänger fand er unter dem zurückgebliebenen Kleinbürgertum, in Teilen des Staatsapparates und im Lumpenproletariat. Diese Gruppen sehen ihre gewünschte Ordnung in einer Rückkehr zur Vergangenheit. Sie werden auch angesprochen durch Phrasen wie „Beteiligung an den Erträgen“, „Sozialisierung der Betriebe“ oder „‚korporative Wirtschaftsprogrammierung“. Die jungen Neofaschisten sprechen direkt von „faschistischem Sozialismus“. Sie berufen sich auf Drieu de la Rochelle, auf den aristokratischen Rassismus Julius Evolas. Almirante fordert wörtlich zur „physischen Auseinandersetzung“ auf, und die Jugendlichen, seien sie nun Mitglieder der MSI oder nicht, gehen zum Angriff auf die Linken über. Die Verbindungen zu in- und ausländischen Geheimdiensten und zu bestimmten Kreisen der Armee bleiben im Dunkel.

Welche Funktion hat der Terrorismus?

Santarelli: Nehmen wir das Attentat vom August 1974 auf einen Zug bei Bologna. Es ging darum — mitten in den Ferien —, das Ordnungsbedürfnis der Italiener zu treffen, an die Existenz dieser illegalen Gruppen zu erinnern. „Der Geist des Nazifaschismus lebt“, heißt es in einer Botschaft der Terroristen. Zu einem Zeitpunkt verminderter Präsenz der organisierten Arbeiterbewegung versucht man so, die Regierung nach rechts zu drängen und die Armee zum Eingreifen zu veranlassen. Einerseits ist Irrationalismus im Spiel. Andererseits bedient sich die MSI dieser Terrorakte, um sie den Linken in die Schuhe zu schieben. Dieser Versuch ist aber auch im August gescheitert. Im Gegenteil, Almirante wird bereits von der Justiz belangt.

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