FORVM, No. 89
Mai
1961

Zur Philosophie der Tragödie

Dr. Peter Szondi (Jahrgang 1929) gehört zu den jüngsten und markantesten Vertretern der deutschen Literaturkritik. Er lebt abwechselnd in Berlin und Zürich, wo er 1954 zum Dr. phil. promovierte und sich im Februar 1961 für das Fach „Deutsche Philologie“ habilitiert hat. Neben seinen Essays in Zeitschriften wie der „Neuen Rundschau“, „Euphorion“ und anderen hat vor allem sein 1956 bei Suhrkamp erschienenes Buch „Theorie des modernen Dramas“ stärkste Resonanz gefunden. Wir freuen uns, Dr. Szondi — mit dem wir gelegentlich seines kräftigen polemischen Eintretens für Paul Celan erstmals in Verbindung traten — fortan zu unseren Mitarbeitern zählen zu können. Der nachfolgende Beitrag entstammt dem Manuskript seines demnächst im Insel-Verlag (Frankfurt) erscheinenden Werks „Versuch über das Tragische“.

Hölderlin

Die Bedeutung der Tragödien ist am leichtesten aus dem Paradoxon zu begreifen. Denn alles Ursprüngliche, weil alles Vermögen gerecht und gleich geteilt ist, erscheint zwar nicht in ursprünglicher Stärke, sondern eigentlich nur in seiner Schwäche, so daß recht eigentlich das Lebenslicht und die Erscheinung der Schwäche jedes Ganzen angehört. Im Tragischen nun ist das Zeichen an sich selbst unbedeutend, wirkungslos, aber das Ursprüngliche ist gerade heraus. Eigentlich nämlich kann das Ursprüngliche nur in seiner Schwäche erscheinen, insofern aber das Zeichen an sich selbst als unbedeutend ... gesetzt wird, kann auch das Ursprüngliche, der verborgene Grund jeder Natur, sich darstellen. Stellt die Natur in ihrer schwächsten Gabe sich eigentlich dar, so ist das Zeichen, wenn sie sich in ihrer stärksten Gabe darstellt ...

Das zwischen 1798 und 1800 entstandene Fragment hat wie die beiden anderen Homburger Texte über das Tragische — der Grund zum Empedokles und der Aufsatz Über das Werden im Vergehen — zum Ausgangspunkt den Begriff der Natur. Es entspringt wie jene der Absicht, dem Menschen gegenüber der Natur eine Stelle einzuräumen, die ihn zwar als deren Diener, doch die Natur zugleich als seiner bedürftig zeigte. In einem Brief an den Bruder, vom 4. Juni 1799, spricht Hölderlin von dem „Paradoxon [...], daß der Kunst- und Bildungstrieb mit allen seinen Modifikationen und Abarten ein eigentlicher Dienst sei, den die Menschen der Natur erweisen“. Aus diesem Paradoxon erklärt das Fragment die Bedeutung der Tragödie. Sein Grundgedanke findet sich in dem Brief an Sinclair vom 24. Dezember 1798 wieder, wo als „die erste Bedingung alles Lebens und aller Organisation“ die Tatsache bezeichnet wird, „daß keine Kraft monarchisch ist im Himmel und auf Erden“. Weil solcherart „alles Vermögen gerecht und gleich geteilt ist“, vermag das seinem Wesen nach Ursprüngliche, die Natur, nicht zugleich „in ursprünglicher Stärke [zu] erscheinen, sondern eigentlich“, das heißt der ihm eigenen Möglichkeit gemäß, aus eigener Kraft, „nur in seiner Schwäche“. Diese Dialektik, daß das Starke von sich aus nur als Schwaches erscheinen kann und eines Schwachen bedarf, damit seine Stärke in Erscheinung trete, begründet die Notwendigkeit der Kunst. In ihr erscheint die Natur nicht mehr „eigentlich“, sondern durch ein Zeichen vermittelt. Dieses Zeichen ist in der Tragödie der Held. Indem er gegen die Naturmacht nichts auszurichten vermag und von ihr vernichtet wird, ist er „unbedeutend“ und „wirkungslos“. Aber im Untergang des tragischen Helden, wenn das Zeichen = 0 ist, stellt zugleich die Natur als Siegerin „in ihrer stärksten Gabe“ sich dar, ist „das Ursprüngliche gerade heraus“. So deutet Hölderlin die Tragödie als Opfer, welches der Mensch der Natur darbringt, um ihr zur adäquaten Erscheinung zu verhelfen. Seine Tragik besteht darin, daß er diesen Dienst, der seinem Dasein Bedeutung verleiht, erst im Tod leisten kann, in dem er als Zeichen „an sich selbst als unbedeutend = 0“ gesetzt wird. Kommt dieser Streit von Natur und Kunst, dessen Ziel freilich die Versöhnung beider ist, nach Hölderlins Auffassung in der Tragödie als solcher zum Austrag, so ist er in jener Tragödie, deren Entstehen die theoretischen Schriften begleiten, ins Thematische gewendet. Denn Empedokles ist für Hölderlin „ein Sohn der gewaltigen Entgegensetzungen von Natur und Kunst, in denen die Welt vor seinen Augen erschien. Ein Mensch, in dem sich jene Gegensätze so innig vereinigen, daß sie zu Einem in ihm werden ...“ Seine Tragik aber ist, daß er eben um der Versöhnung willen, die er verkörpert, und gerade, weil er sie verkörpert, das heißt sinnlich darstellt, untergehen muß. Denn einerseits wird die Versöhnung, wie der Grund zum Empedokles ausführt, nur dann erkennbar, wenn das zur innigen Einheit Verbundene im Kampf sich trennt, anderseits darf die sinnliche Vereinigung bloß scheinbar und temporär sein und muß aufgehoben werden, „weil sonst das Allgemeine im Individuum sich verlöre, und [...] das Leben einer Welt in einer Einzelheit abstürbe“. Empedokles ist so „ein Opfer seiner Zeit“, dessen „Vergehen“ indessen ein „Werden“ ermöglicht, und dieses Schicksal ist nicht sein persönliches, sondern, wie Hölderlin betont, das Schicksal „mehr oder weniger“ aller „tragischen Personen“.

Kierkegaard

Das Tragische ist der leidende Widerspruch.
Die tragische Auffassung sieht den Widerspruch und verzweifelt am Ausweg.

Kierkegaards Definition des Tragischen ist der Goethes verwandt, nicht nur weil sie gleichfalls ohne inhaltliche Bestimmungen auskommt, sondern weil der formale Blick beider, den kein Systemwille lenkt, im Tragischen zwangsläufig die gleiche Dialektik erfaßt. Doch unterscheidet sich Kierkegaards Bestimmung von der Goetheschen in zwei Punkten, die sowohl die Struktur des Tragischen als auch dessen Stellenwert im Denken Kierkegaards genauer zu sehen erlauben. Während Goethe von Gegensatz spricht, wählt Kierkegaard, wohl dem Wortgebrauch von Hegels Logik folgend, den Begriff des Widerspruchs (Modsigelse), um damit die vorgegebene Einheit der beiden kollidierenden Gewalten auszudrücken, die ihren Kampf erst zu einem tragischen macht. Was Goethe erst in der Anwendung seiner Definition auf Manzonis Carmagnola hinzunimmt, ist von Kierkegaard im Wort „Modsigelse“ schon intendiert und in einem Satz aus Entweder/Oder ausdrücklich gesagt: „Damit der tragische Konflikt rechte Tiefe habe, müssen die widerstreitenden Gewalten gleichartig sein.“ Wichtiger jedoch ist der zweite Unterschied. Obwohl Goethe Zelter gegenüber geäußert hat, das Unversöhnliche käme ihm absurd vor, nahm er den „unausgleichbaren Gegensatz“, auf dem das Tragische beruht, als eine objektive Gegebenheit, wie er auch die Ausgleichung, durch welche das Tragische schwindet, wohl als vom Subjekt unabhängig ansah. Für Kierkegaard dagegen ist die Ausweglosigkeit des tragischen Widerspruchs nicht in der Realität, sondern bloß in der „Auffassung“ des Menschen beheimatet, der die Möglichkeit hat, wenn auch nicht den Ausweg zu erzwingen, so doch den Widerspruch in einer höheren Sicht aufzuheben, indem er ein neues Existenzstadium zu seiner Grundlage nimmt; denn das Tragische ist auf eines dieser Stadien beschränkt, das es zu überwinden gilt, nämlich aufs ethische. Deshalb schwindet der Begriff des Tragischen aus Kierkegaards Schriften nach 1846 und wird auch in den früheren Werken fast nie für sich selbst, sondern stets als Kontrast zu seinen Gegenbegriffen aus dem religiösen Stadium gedacht. So in dem Vergleich von Furcht und Zittern, der Abraham als „Ritter des Glaubens“ über den „tragischen Helden“ Agamemnon hinaushebt.

Dabei beraubt freilich der junge Kierkegaard in der Nachfolge Hegels den „ausweglosen Widerspruch“, wie er sich für Agamemnon in der ethischen Sphäre ergibt, seiner Radikalität, um das religiöse Paradox im Schicksal Abrahams stärker davon abheben zu können: „Der tragische Held gibt das Gewisse um des noch Gewisseren willen auf, und die Augen des Betrachters ruhen sorglos auf ihm.“ Nachdem dann die Lehre von den Existenzstadien ausgearbeitet ist, wird auch das Tragische und die Möglichkeit seiner Überwindung anders gesehen. Im Zusammenhang mit der eingangs zitierten Bestimmung schreibt Kierkegaard in der Unwissenschaftlichen Nachschrift (1846), die Verzweiflung wisse keinen Ausweg, sie wisse „den Widerspruch nicht aufgehoben, und sollte daher den Widerspruch tragisch auffassen; was gerade der Weg zu ihrer Heilung ist. Das, wodurch der Humor berechtigt ist, ist gerade seine tragische Seite, daß er sich mit dem Schmerz versöhnt, von dem die Verzweiflung abstrahieren will, obwohl sie keinen Ausweg weiß“. Auf dem Denk- und „Lebensweg“ Kierkegaards löst so das Tragische der Humor ab, der als „das Konfinium zwischen dem Ethischen und dem Religiösen“ definiert wird, nachdem er schon in der Dissertation als „Standpunkt des Religiösen“ auftrat. Kierkegaard erscheint damit als Theoretiker weniger des Tragischen denn seiner Gegenbegriffe: der Ironie, des Humors und der Komik, deren Verwandtschaft mit dem Tragischen ihm um so deutlicher ins Bewußtsein trat, je mehr er sich von diesem löste. So ließ er sein Pseudonym Frater Taciturnus im Nachwort zur Leidensgeschichte des Quidam bekennen: „Für mich steht die Sache nicht so schlimm; ich sitze ganz vergnügt über meiner Rechnung und sehe zugleich das Komische und das Tragische.“ Doch die spöttische Distanz zu sich selber vermag am allerwenigsten zu verdecken, daß der Begriff des Tragischen für Kierkegaard kein bloßes Hilfsmittel zur Ergründung des Religiösen, sondern der Schlüssel zu seinem eigensten Leidensproblem war, dessen (zunächst ironische) Lösung er eben von jenem höheren Stadium sich versprach. Das erweist der Entwurf einer Antigone-Tragödie in Entweder/Oder, für welche die überlieferte Handlung der Lebensgeschichte Kierkegaards angeglichen wurde. Oedipus stirbt, ohne daß seine Sünden an den Tag gekommen wären, und Antigone, die sie schon zu Lebzeiten ihres Vaters ahnte, aber schwieg und der Schwermut verfiel, ist „sterblich verliebt“. Um dem Geliebten ihre Liebe erklären zu können, müßte sie ihm auch das Geheimnis ihrer Schwermut anvertrauen — gerade dadurch würde sie ihn aber verlieren. „Allein im Augenblick ihres Todes kann sie die Innigkeit ihrer Liebe gestehn, erst in dem Augenblick, da sie ihm nicht mehr gehört, kann sie gestehen, daß sie ihm gehört“, schreibt Kierkegaard und vergleicht ihr Geheimnis dem Pfeil des Epaminondas, den dieser nach der Schlacht in der Wunde stecken ließ, weil er wußte, es wäre sein Tod, wenn der Pfeil herausgezogen würde. Nicht anders stand für Kierkegaard das Wissen um die Jugendsünde seines Vaters und das Bewußtsein einer eigenen Verfehlung als Hindernis zwischen ihm und Regine. Seine Tragik war die seiner Antigone. Er mußte Regine durch die Auflösung der Verlobung unglücklich machen, weil dies seine einzige Hoffnung war, sie glücklich zu machen. Wie die Schwermut Antigones deutete Kierkegaard auch die eigene in jenem Bild, dessen dialektischer Sinn es ist, daß gerade die Befreiung vom Todbringenden den Tod herbeiführen muß. Der biblische Pfahl im Fleisch wurde für Kierkegaard zum tragischen Emblem seines Lebens.

Hebbel

Das Drama stellt den Lebensprozeß an sich dar. Und zwar [...] in dem Sinne, daß es uns das bedenkliche Verhältnis vergegenwärtigt, worin das aus dem ursprünglichen Nexus entlassene Individuum dem Ganzen, dessen Teil es trotz seiner unbegreiflichen Freiheit noch immer geblieben ist, gegenübersteht.

Die Kunst [...] hat die Vereinzelung durch die ihr eingepflanzte Maßlosigkeit selbst immer wieder aufzulösen und die Idee von ihrer mangelhaften Form zu befreien gewußt. In der Maßlosigkeit liegt die Schuld, zugleich aber auch, da das Vereinzelte nur darum maßlos ist, weil es, als unvollkommen, keinen Anspruch auf Dauer hat und deshalb auf seine eigene Zerstörung hinarbeiten muß, die Versöhnung, so weit im Kreise der Kunst darnach gefragt werden kann. Diese Schuld ist eine uranfängliche, von dem Begriff des Menschen nicht zu trennende und kaum in sein Bewußtsein fallende, sie ist mit dem Leben selbst gesetzt.

Daß in diesen Sätzen aus Mein Wort über das Drama (1843) unter „Drama“ die Tragödie und unter „Kunst“ die tragische zu verstehen ist, beweisen zahlreiche Stellen aus Hebbels Tagebuch, so der Satz: „Das Leben ist der große Strom, die Individualitäten sind Tropfen, die tragischen aber Eisstücke, die wieder zerschmolzen werden müssen und sich, damit dies möglich sei, aneinander abreißen und zerstoßen.“ Gleich den Eisstücken löst sich der tragische Held nach Hebbel aus dem Zusammenhang, dem er entstammt, übersteigt dabei sein Maß und fordert den Widerstand eines anderen heraus. Weil er durch seine gewandelte Form der Idee des fließenden Lebens widerspricht, muß er untergehen, obwohl seine Metamorphose ins starr Vereinzelte nicht bloß seinem eigenen Willen, sondern zugleich dem objektiven Lebensprozeß selbst entspringt. Was ihn vernichtet, ist nicht unmittelbar diese Gewalt, sondern eine andere Individualität, die sein Schicksal teilt, indem sie den Sieg über ihn gleichfalls mit dem Untergang bezahlt, mit der Rückkehr ins Ganze, von dem sie beide abfielen. Hebbels metaphorische Verwendung eines Naturvorgangs zeigt zugleich, daß die Tragik — wie der eingangs zitierte Text ausführt — vom Wesen des Menschen nicht zu trennen ist. Der Mensch wendet sich Hebbel zufolge notwendig gegen das Lebensganze, indem er dessen Gesetzlichkeit, die Individuation, erfüllt; er wird vernichtet durch seine eigene Natur, dadurch, daß er ist, was er ist. Hebbel nennt es „nicht bloß gleichgültig, ob der Held an einer vortrefflichen oder verwerflichen Bestrebung zugrunde geht, sondern es ist, wenn das erschütterndste Bild zustande kommen soll, notwendig, daß jenes, nicht dieses, geschieht“. Diese Auffassung, deren dialektisches Wesen deutlich zutage liegt, ist von Hegel und Solger geprägt. Während Schelling im Tragischen den Kampf der subjektiven Freiheit gegen die objektive Notwendigkeit, ihre Bestätigung durch den Untergang sah und der junge Hegel die Selbstentzweiung und Selbstversöhnung der Sittlichkeit, erscheint zuerst bei Solger der Gedanke, daß die Tragik auf die Unvereinbarkeit von Idee und Existenz zurückgeht, auf den Eintritt des Göttlichen in die Gegensätze der Realität, die es sowohl vernichten als auch allererst offenbaren. Wohl von Solger übernimmt Hegel dieses Motiv für die Ästhetik, die im Unterschied zur Phänomenologie und zu der Schrift über das Naturrecht das Tragische aus der Manifestation des Göttlichen in der Welt der Besonderung erklärt. Wie Schopenhauer und später Nietzsche erachtet in Hegels Nachfolge auch Hebbel das Individuationsprinzip als den eigentlichen Grund des Tragischen. Doch unterscheidet sich seine Auffassung zugleich von Hegels und Nietzsches Optimismus, der auf dem Glauben an den Gang des Geistes bzw. an die Macht des Dionysischen beruht, wie auch vom Schopenhauerschen Pessimismus, welcher den Trost in der Resignation aus sich selber schöpft. Hebbels Denken markiert einen Wendepunkt in der Geistesgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, indem es noch den metaphysischen Weg des Idealismus geht, aber ohne das Wissen um den Sinn, in dessen Besitz der Weg einst angetreten wurde. „Das Leben ist eine furchtbare Notwendigkeit, die auf Treu und Glauben angenommen werden muß, die aber keiner begreift“, heißt es im Tagebuch und an anderer Stelle: „Das moderne Schicksal ist die Silhouette Gottes, des Unbegreiflichen und Unerfaßbaren.“ Auf die Frage, warum der Riß geschehen mußte, der das Individuum von dem Lebensganzen trennt, hat Hebbel „nie eine Antwort gefunden, und keiner wird sie finden, der ernstlich fragt“. Indem so „das Drama sich mit dem Weltmysterium in eine und dieselbe Nacht verliert“, verschärft sich die Tragik des Menschen in doppelter Hinsicht. Während bei Hegel der tragische Held, dessen Pathos die Sittlichkeit einseitig repräsentiert, nur gegenüber den anderen Verkörperungen des Sittlichen in Schuld gerät, nicht aber wider die Sittlichkeit selbst, wird der Mensch bei Hebbel in einem rational nicht auflösbaren Vorgang, der an Kafka gemahnt, gegenüber einer Lebensmacht schuldig, die er weder kennt noch begreift. Deutlich tritt diese Abweichung Hebbels von Hegel, dessen Schuldbegriff er dennoch zu teilen vermeint, in seiner Deutung der Antigone hervor. In Kreon sieht er keinen gleichberechtigten tragischen Helden und läßt Antigone untergehen an der Verschuldung nicht gegenüber dem Gesetz, sondern wider die Ganzheit des Lebens, aus der sie sich als Individualität gelöst hat. Es entspricht Hebbels Radikalisierung der Schuld, daß die Versöhnung „im Kreise der individuellen Ausgleichung“, also in der Tragödie selber, unmöglich wird. Doch auch in der Sinngebung, welche jenseits des Werks sichtbar wird, verläßt Hebbel den Standpunkt des deutschen Idealismus. Während Solger noch darin, daß die Existenz das Ewige nicht ertragen kann, das Zeugnis ihrer Bestimmung zum Ewigen erblickt und Schopenhauer die Selbstaufhebung des Willens in der Resignation bejaht, ist für Hebbel die tragische Kunst, die „das individuelle Leben der Idee gegenüber vernichtet“ und sich so „darüber erhebt“, nur „der leuchtende Blitz des menschlichen Bewußtseins, der [...] nichts erhellen kann, was er nicht zugleich verzehrte“. Der Sinn, den die Tragödie in der Vernichtung erkennen läßt, wird so in der Erkenntnis selber vernichtet. Die „Pantragik“ Hebbels gipfelt in der Tragödie der tragischen Kunst. Zeitweise freilich tritt an die Stelle der weggefallenen metaphysischen Begründung für Hebbel die geschichtsphilosophische. Auch sie übernimmt er von Hegel, bei dem der Prozeß des Geistes ja zugleich die Weltgeschichte ist. Zum bloß historischen säkularisiert, erscheint er in der Definition der tragischen Tat, wie sie Hebbel im Vorwort zu Maria Magdalene rückblickend auf seinen Erstling gibt. Judiths Tat wird hier „eine tragische“ genannt, d.h. „eine in sich, des welthistorischen Zwecks wegen notwendige, zugleich aber das mit der Vollbringung beauftragte Individuum wegen seiner partiellen Verletzung des sittlichen Gesetzes vernichtende“. Nicht zufällig steht dieser Satz gerade in der Vorrede, die das „bürgerliche Trauerspiel“ zu rechtfertigen unternimmt. Denn beide Punkte zeigen Hebbel auf jenem Weg, der ihn vom Idealismus zum soziologischen Historismus führt. Schon früh hat denn auch der Ausdruck „Vereinzelung“, den Hebbel als Grundbegriff seiner Deutung des Tragischen an die Stelle von „Besonderung“ und „principium individuationis“ setzt, neben dem metaphysischen auch einen konkret gesellschaftlichen Sinn. Das erweist die Skizze einer Napoleon-Tragödie. 1838 schreibt Hebbel in sein Tagebuch, der Fehler Napoleons, „daß er sich die Kraft zutraut, alles durch sich selbst, durch seine eigene Person“ ausführen zu können, sei „ganz in seiner großen Individualität begründet und jedenfalls der Fehler eines Gottes“, wendet aber die Charakteristik, welche auch die des Holofernes sein könnte, entschieden ins Historisch-Soziologische, indem er hinzusetzt, dieser Fehler sei „hinreichend, ihn zu stürzen“, „besonders in unserer Zeit, wo weniger der Einzelne, als die Masse sich geltend macht“.

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