FORVM, No. 99
März
1962

Zwischen Hoffnung und Höllenfahrt

Frankreich nach dem Algerien-Abkommen

Die Verhandlungen zwischen Mitgliedern der französischen Regierung und Vertretern der „Provisorischen Regierung der Republik Algerien“ vom 11. bis zum 18. Februar an einem geheimgehaltenen Ort nahe der Schweizer Grenze haben zu einem positiven Resultat geführt.

Nach Billigung der Vereinbarungen durch die französische Regierung und den „Algerischen Nationalrat“ soll ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet und eine französisch-algerische Grundsatzerklärung über die Zukunft des Landes veröffentlicht werden. Sodann soll eine provisorische Exekutive und eine gemischte französisch-algerische Ordnungstruppe aufgestellt werden. Schließlich soll eine Volksabstimmung über den zukünftigen politischen Status des Landes entscheiden. Falls die Entscheidung zugunsten der Unabhängigkeit ausfällt — woran nicht zu zweifeln ist —, wird Frankreich Algerien den Status eines souveränen Staates zubilligen.

Der Marinestützpunkt Mers El Kebir soll Frankreich für die Dauer von fünfzehn Jahren zur Verfügung gestellt werden. Auch verschiedene Luft- und Militärbasen in Algerien sollen für kürzere Zeit den französischen Streitkräften überlassen werden. Ferner soll das Abkommen vorsehen, daß Frankreich drei Jahre lang in der Sahara Atomversuche durchführen kann. Französische Truppen sollen auch nach der Feuereinstellung in Algerien stationiert bleiben, um vor allem die Grenzen gegenüber Tunesien und Marokko zu überwachen. Die Übergangsperiode zwischen der Feuereinstellung und der Volksabstimmung wird voraussichtlich vier Monate betragen. Für diese Zeit soll ein provisorisches Exekutivorgan mit mohammedanischer Majorität eingesetzt werden.

Der Algerienkrieg hat nicht nur hunderttausende Tote und Verwundete gekostet. Er hat mit erschreckender Deutlichkeit gezeigt, was man seit Hitler ohnehin wußte: daß auch ein Volk mit alter Kultur seine Seele verlieren kann.

Neun Millionen Algerier stehen einer Million „Europäern“ gegenüber, deren Vorfahren das Land urbar gemacht, Spitäler und Schulen erbaut und die Lehre von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ über’s Meer gebracht haben. Der zweite Weltkrieg bringt die Demütigung Frankreichs. Die „Entkolonisierung“ beginnt. Wieder fluten Frankreichs Armeen zurück. Sie müssen Indochina, Madagaskar, Marokko, Tunesien aufgeben. In Algerien beginnt der Aufstand am 1. November 1954. Aber hier, so schwören die Offiziere, die größtenteils aus Indochina kamen, gibt es kein zurück; „l’Algérie, c’est la France“ — Algerien ist Frankreich.

„Algérie française“, das „französische Algerien“, wurde zum Schlachtruf. Als der sozialistische Ministerpräsident Guy Mollet 1956 mit einem Friedensplan nach Algerien kam, scholl ihm dieser Ruf aus hunderttausend Kehlen entgegen — eine ungeheure Woge des Hasses und der Erbitterung. Die Friedenspläne wurden beiseite gelegt, die militärischen Anstrengungen verstärkt, Robert Lacoste regierte das Land mit eiserner Hand.

1958 versuchte der volksrepublikanische Ministerpräsident Pflimlin, gemäß dem Willen der überwiegenden Mehrheit des Mutterlandes, den Weg des Friedens zu beschreiten. Nun waren die Gegenkräfte schon organisiert, ihre Fäden liefen zu den höchsten Stellen der Armee. Es kam der 13. Mai. Stark genug, um eine friedliche Lösung zu vereiteln, zu schwach, um in Paris die Macht zu ergreifen, mußten sich die Verteidiger des französischen Algerien, die „Ultras“, unter die sich bereits andere Kräfte mit viel weiterreichenden Zielen mischten, damit begnügen, General de Gaulle an die Macht zu verhelfen.

Die Liberalen akzeptierten de Gaulle, denn — so meinten sie — wer könnte geeigneter sein, einen Krieg zu beenden als ein Nationalheld, dem man wohl kaum den Vorwurf machen würde, daß er die Interessen Frankreichs verrate. Die Ultras wiederum hofften, daß de Gaulle durch die Art seiner Machtergreifung gezwungen sein werde, ihre Politik zu betreiben. Sie sollten bald enttäuscht werden.

Immer klarer trat zu Tag, daß de Gaulle die Notwendigkeit des Friedens in Algerien erkannt hatte, wie es das wohlverstandene Interesse Frankreichs und des Westens erforderte. War doch der Algerienkrieg ein willkommenes Argument für Moskau, entfremdete er doch immer mehr Araber und Afrikaner dem Westen. Zudem wollte de Gaulle vom Algerienkrieg loskommen, um seine hochfliegenden Europa-Pläne realisieren zu können.

Von Rede zu Rede, von Fernsehansprache zu Fernsehansprache wurde es klarer, daß der General entschlossen war, den Algeriern das Selbstbestimmungsrecht zu geben. „Ultras“, „aktivistische“ Offiziere und verschiedene rechtsextremistische Gruppen und Grüppchen inszenierten den „Aufstand der Barrikaden“ im Januar 1960. Dann kam der Putschversuch der vier Generäle im April 1961. Die OAS (Organisation Armée Secrète) entstand, der blutige Terror griff auf das Mutterland über.

Es ist nicht Sache eines Außenstehenden, über die Algerienfranzosen zu urteilen. Auch für sie ist Algerien die Heimat; ihre Väter und Vorväter lebten dort. Sie haben aus Algerien ein Land mit modernen Städten und Häfen, mit aufblühender Industrie und Landwirtschaft gemacht. Gewiß herrscht unter der mohammedanischen Bevölkerung zum Teil noch unbeschreibliches Elend, gewiß haben sich die französischen Großgrundbesitzer die besten Böden genommen, gewiß werden Europäer und Algerier ungleich bezahlt (obzwar es auch viele „arme Weiße“ gibt) und gewiß sind viele Algerienfranzosen von Rassenvorurteilen verblendet und belegen die Algerier mit Spott- und Schimpfnamen. Aber das rückschwingende Pendel trifft sie hart. Es droht ihnen der Tod oder die Vertreibung. „Wählt zwischen dem Koffer und dem Sarg“ — das war die Alternative, vor die sie von den Aufständischen gestellt wurden.

Den Drahtziehern des neuen Untergrundes geht es nicht allein und nicht in erster Linie um die Verteidigung der algerischen Heimat. Es geht um die Machtergreifung in Paris, es geht um die Errichtung eines faschistischen Régimes in Frankreich.

Bilder einer nicht allzu fernen, nicht allzu gut bewältigten Vergangenheit steigen empor. Das Keltenkreuz erinnert an das Hakenkreuz; das Werben um das Bürgertum, unter dem Vorwand der Stoßrichtung gegen links, erinnert an die Allianz Hitler—Papen; das verschrobene „politische“ Programm erinnert an die 25 Punkte der Nationalsozialisten. Auch die Traumata, die in Deutschland durch „Versailles“, in Frankreich durch die Niederlage von 1940 und die Entkolonisierung hervorgerufen wurden, sind parallele Phänomene. Dazu kommt die Rassenfrage: die Algerier sind die Juden des französischen Faschismus. Andere Bilder aus der Vergangenheit: der spanische Bürgerkrieg; eine Armee, die aus Afrika herüberkommt; ein Volk, das zu den Waffen greift.

Die sozialen Bedingungen im Frankreich der Sechzigerjahre sind jedoch von denen Deutschlands in der Vorhitlerzeit grundsätzlich verschieden. Frankreich nähert sich dem Niveau der „Gesellschaft des Überflusses“, in dem die wirtschaftliche Prosperität die alten sozialen Schichtungen verwischt und die „Entpolitisierung“ fördert. So sah die Bevölkerung des Mutterlandes dem Treiben in und um Algerien mit relativer Indifferenz zu und begnügte sich damit, bei Wahlen ihren allgemeinen Wunsch nach Frieden zum Ausdruck zu bringen. Als am 13. Mai 1958 die Vierte Republik von Armee, „Ultras“ und Gaullisten gestürzt wurde, rührte sich kein Finger, um sie zu verteidigen.

Freilich können unter Umständen auch diese Apathie und Indolenz gefährlich werden, denn inmitten der allgemeinen Gleichgültigkeit kann es einer relativ kleinen Gruppe entschlossener Männer gelingen, die Macht an sich zu reißen. Auch sind Zynismus und Nihilismus — die berühmte „nausée“, die heute die Grundstimmung eines großen Teils der französischen Jugend (und nicht nur der französischen) ist — geeignete Medien für den Faschismus.

Aber da ist noch de Gaulle. Die charismatische Faszination dieses Mannes ist für den Nichtfranzosen schwer begreiflich. Ist sie eine Funktion des Traumas von 1940? Seine klassische Diktion, seine Gelassenheit in der Gefahr, sein unerschütterlicher Glaube an Frankreich und an seine eigene Mission, das „Prinzip Hoffnung“, das er seit über zwanzig Jahren verkörpert, haben ihn für viele Franzosen zu einer überlebensgroßen Gestalt gemacht.

In diesen Wochen wird es sich erweisen, ob es dem Kapitän gelingt, das Schiff durch den Sturm zu bringen, der sich am Horizont zusammenbraut. Die Unterzeichnung des Abkommens mit den algerischen Aufständischen wird für die OAS und alle mit ihr verbündeten Gruppen zum Signal einer verstärkten Aktivität werden. Kritische Tage sind in Algerien zu erwarten, wo die OAS die europäische Bevölkerung fest in der Hand hat und sich der Durchführung des Abkommens zweifellos widersetzen wird — was zur Teilung Algeriens nach dem Muster Palästinas führen könnte.

Kann es zu einer Machtergreifung der Rechtsextremisten im Mutterland kommen? Das hängt in erster Linie davon ab, ob es der OAS gelingt, beträchtliche Teile des Bürgertums für sich zu gewinnen, indem sie sich als bester Schutz gegen den Kommunismus anbietet. Ihre Taktik zielt darauf ab, durch verstärkte Angriffe gegen die Linke eine Gegenbewegung hervorzurufen, die dem Bürgertum die Gefahr einer Volksfront vor Augen führt. Die Regierung hat dies erkannt; sie hat energisch gegen die Linke reagiert. Bei einer Anti-OAS-Kundgebung am 8. Februar floß Blut.

Entscheidend ist die Haltung der Armee. Gelänge es der OAS, die Offiziere auf ihre Seite zu ziehen, wären die Folgen für Frankreich, für Europa, für die ganze Welt unabsehbar. Wenn die Meuterer das Ruder des Schiffes ergriffen, würde eine Höllenfahrt beginnen.

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