FORVM, No. 198/I
Juni
1970

Reise durch Aegypten (II)

voriger Teil: Reise durch Aegypten

Alle pessimistischen Prognosen, betreffend die ägyptische Wirtschaft, wurden von den Ereignissen widerlegt. Zum erstenmal seit vielen Jahren ist die Zahlungsbilanz aktiv, nachdem 1967/68 ein Defizit von mehr als 50 Millionen Pfund (rund 3,75 Milliarden Schilling) zu verzeichnen war. Die Handelsbilanz ist fast ausgeglichen, da der Export binnen eines Jahres um 30 Prozent gestiegen ist. Die Industrieproduktion hat 1969 um 12 Prozent zugenommen (gegenüber durchschnittlich 8 Prozent in den Jahren 1960 bis 1966), auch die Landwirtschaft erlebte einen beträchtlichen Aufschwung. Die allgemeine Wachstumsrate lag mit 5 Prozent nur wenig unter dem jährlichen Durchschnitt in der Zeit zwischen 1956 und 1966.

Dieses „Wirtschaftswunder“ ist für Dr. Ismail Sabri Abdallah, Leiter des Instituts für Wirtschaftsplanung, durchaus erklärlich. Seiner Meinung nach läßt es sich auf fünf Faktoren zurückführen:

  1. Die Bevölkerung hat Opfer auf sich genommen, insbesondere zusätzliche Steuerlasten in der Höhe von 250 Millionen Pfund im Jahr (rund 18,75 Milliarden Schilling).
  2. Die wirtschaftlichen Leistungen vor dem Krieg haben es dem Land möglich gemacht, die Schwierigkeiten leichter zu überwinden: rund 700 Industrieunternehmungen wurden unter Nasser errichtet; zahlreiche Lebensmittel werden erzeugt, die früher aus dem Ausland hätten importiert werden müssen. Zum Beispiel stieg die Reisernte von 100 Millionen Tonnen 1965 auf 750 Millionen Tonnen 1969.
  3. Der Staudamm von Assuan ermöglichte nicht nur die Bewässerung von größeren Landflächen, sondern auch die Versorgung von Fabriken mit Elektrizität. Dies war um so wichtiger, als die Zerstörung der Raffinerien am Suezkanal Treibstoffmangel zur Folge hatte.
  4. Außergewöhnlich günstige Ernten, insbesondere an Baumwolle und Reis, deren Preise auf dem Weltmarkt steigen, sowie die Entdeckung neuer Erdöllager, die die Produktion des „schwarzen Goldes“ von sechs auf 18 Millionen gesteigert hat, haben die Handelsbilanz verbessert und den Staatsschatz mit Devisen angereichert.
  5. Dank der Außenpolitik Präsident Nassers zahlen die arabischen Staaten an die VAR jährlich beträchtliche Summen (95 Millionen Pfund Sterling, 5,7 Milliarden Schilling). Das sozialistische Lager leistet auf den verschiedensten Gebieten Hilfe, insbesondere durch die Gewährung von Entwicklungsdarlehen und durch massiven Ankauf von nichttraditionellen ägyptischen Erzeugnissen, ganz zu schweigen von den Gratislieferungen an Waffen, die den ägyptischen Fiskus beträchtlich entlasten.

Der Wiederaufbau der Wirtschaft, die Maßnahmen zur Befriedigung der materiellen Bedürfnisse des Großteils der Bevölkerung haben zweifellos auf die öffentliche Meinung beruhigende Wirkung ausgeübt.

Auch im politischen Bereich hat das Regime Nasser den Weg der Befriedung gewählt. Nasser hat aus den Ereignissen des Mai/Juni 1967 gelernt, als die bis zur Weißglut erhitzte öffentliche Meinung unbestreitbar die Entscheidungen der politischen Führung beeinflußt hatte. Heute hat er seine Propagandamethoden sowohl inhaltlich als auch formal geändert. Politiker und Journalisten vermeiden sorgfältig, die Formeln von früher zu verwenden, mit denen zur „Zerstörung“ des Staates Israel und zur „Befreiung Palästinas“ aufgerufen worden war. Diese Ausdrücke sind heute im Rundfunk streng verboten, insbesondere in den Sendungen der „Stimme der Araber“. Die Aufrufe zum Kampf und zum Widerstand beziehen sich ausschließlich auf die seit dem Sechstagekrieg besetzten Gebiete. Eines der wichtigsten Ziele der „Aufklärungskampagne“, die die Sozialistische Union Arabiens (die Staats- und einzige Partei) im ganzen Land durchführt, ist die Verbreitung der These, daß „Friede nicht Kapitulation bedeutet“ und daß der „Zermürbungskrieg“ auf jeden Fall ein langfristiges Unternehmen darstellt.

Die kriegerischen Plakate, die den Brand schürenden Schlagworte, die haßerfüllten Karikaturen, die man vor dem Konflikt im Juni 1967 sah, sind heute so gut wie völlig verschwunden. Das Thema des Krieges wird in Rundfunk und Fernsehen kaum berührt, was in Momenten der politischen Spannung zu heftigen Protesten der Öffentlichkeit führt (zum Beispiel im Jänner 1970 beim Überfall der Israelis auf Khanka, bei dem es 87 Tote, zum Großteil Zivilisten, gab). Der berühmte Sänger Abdel Halim Hafez hat in einem aufsehenerregenden Interview erklärt, daß sich der Rundfunk seit zwei Jahren systematisch weigert, die „patriotischen Lieder“, die er komponiert und gesungen hat, zu senden. Während der 14 Jahre vor dem Junikrieg war hingegen kein einziges seiner Lieder jemals zensuriert worden.

Anhänger der extremen Linken klagen bitter über die Tatsache, daß noch immer keine Volksmiliz aufgestellt worden ist, obwohl dies schon zehnmal angekündigt wurde. „Die Bevölkerung“, sagte uns einer von ihnen, ein Professor an der Universität von Kairo, „fühlt sich von allen Entscheidungszentren ausgeschlossen. Außerdem verlangt man nichts von ihr: weder zu kämpfen noch für den Guerillakrieg zu üben noch sich aktiv mit Politik zu beschäftigen. Und dann wundert man sich über die Apathie der Leute!“ Ein Beobachter meinte nicht ohne Humor: „Es ist klar, daß in diesem Land der Krieg in die alleinige Kompetenz des Kriegsministeriums fällt.“

Ein Regierungsmitglied, dem wir diese Worte erzählten, erklärte uns: „Wir haben keine andere Wahl. Ob es nun beim Status quo bleibt oder zu einem Frieden kommt, wichtig ist, daß die öffentliche Meinung nicht ständig im Zustand der permanenten Erregung bleibt.“

Die verantwortlichen Politiker sind sich jedoch im klaren darüber, daß eine solche Situation nicht ewig dauern kann, ohne daß es zu allen möglichen Gefahren, militärischen, politischen und ökonomischen, kommt. Entgegen dem offiziellen Optimismus hat mir Präsident Nasser im Lauf eines Gesprächs gesagt: „Dieser Konflikt kostet uns jährlich an die 500 Millionen Pfund (37,5 Milliarden Schilling). Dies hat ohne Zweifel Auswirkungen auf unsere Wirtschaft und auf die Entwicklung des Landes. Die Militärausgaben haben bereits die Landerschließungsprojekte und die neugeschaffenen Industrien beeinträchtigt und uns gezwungen, unsere Investitionen auf dem tertiären Sektor einzuschränken.“

Auf lange Sicht kann ein Land wie Ägypten nicht einen so kostspieligen Krieg auf sich nehmen, ohne damit seine Zukunft auf Dauer zu gefährden. Zu den klassischen Problemen der Unterentwicklung kommt das noch dramatischere Problem der Bevölkerungsexplosion. Die Bevölkerung wächst jährlich um eine Million Menschen, die ernährt werden müssen. Die Emigration wird seit einigen Jahren offiziell gefördert. (1962 bis 1969 verließen 20.000 Menschen das Land, 93 Prozent davon nach den USA, Kanada, Australien.) Dies wird die Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung nicht beseitigen. Das Land lebt derzeit gewissermaßen über seinen Verhältnissen, es genießt einen Wohlstand, der geborgt ist. Die Staatsschulden betragen 1,9 Milliarden Dollar (47,5 Milliarden Schilling), wobei zu zwei Dritteln die Sowjetunion als Gläubiger fungiert. Und diese Schulden werden weiterhin anwachsen. Eine solche Situation, sagen die Ägypter, ist eine Hypothek für die Unabhängigkeit des Landes. Um so mehr, als nichts die ewige Fortdauer der Finanzhilfe der arabischen Staaten garantiert, die den politischen Schwankungen der ganzen Region unterworfen sind.

Die Politiker sind sich der Gefahren, die ihnen bevorstehen, bewußt. Wenn der Lebensstandard der Bevölkerung sinkt, wenn die Armee schwere Rückschläge erleidet, dann könnte auch das Regime Nasser selbst ernsthaft in Frage gestellt werden.

III. Auf der Suche nach dem unerreichbaren Frieden

In einem populären Café in der Nähe der islamischen Universität von Al-Azhar in Kairo treffen wir uns, um über den israelisch-arabischen Konflikt zu diskutieren. Nach einem anstrengenden Arbeitstag kommen hierher Arbeiter und kleine Angestellte, um sich zu entspannen. Sie schlürfen eine Tasse Tee oder einen „Mazbout“-Kaffee (fast ungesüßt) und lassen dabei einen islamischen Rosenkranz durch die Hände laufen, rauchen eine Zigarette oder spielen Puff.

Koexistenz kein Tabu

Meine Begleiter sind ägyptische Intellektuelle — Filmleute, Journalisten, Schriftsteller. Einer von ihnen hat „linke“ Ansichten. Vor dem Krieg im Juni 1967 galt er als „Gemäßigter“, als Anhänger eines Kompromisses mit Israel. Das Debakel im Juni 1967 hat ihn wie viele andere wieder in das Lager der „Falken“ zurückgeworfen. Sein Standpunkt ist einfach: „Der zionistische, rassistische und expansionistische Staat Israel ist nur eine Projektion des Weltimperialismus in den Nahen Osten. Die arabische Welt hat heute keine andere Wahl, als den bewaffneten Kampf in allen seinen Formen fortzusetzen, bis zum Sieg, der sowohl die Massen der Juden als auch die Araber befreit.“

Ein kleiner, untersetzter Mann, der vom Nachbartisch das Gespräch mit offensichtlichem Interesse verfolgt, steht plötzlich auf und wendet sich an unseren Gesprächspartner: „Ich bin nicht Ihrer Meinung. Die Juden haben das Recht, sich den Staat zu errichten, den sie wollen, vorausgesetzt, daß sie ihre Grenzen einhalten. In diesem Fall sollte uns nichts daran hindern, mit ihnen Frieden zu schließen. In dieser Region ist für alle Platz.“

Auf diesen mutigen Vorstoß folgt zunächst tödliches Schweigen. Aber langsam kommen auch andere Besucher an unseren Tisch, an dem sich nun die Anhänger und Gegner eines Friedens mit Israel gegenüberstehen. Daß diese Diskussion in einem öffentlichen Restaurant stattfinden kann, sagt bereits viel darüber, wie sehr sich seit dem Sechstagekrieg die Atmosphäre gewandelt hat. Noch aufschlußreicher ist die Tatsache, daß die Worte Koexistenz, Versöhnung und Frieden, auch wenn sie, vor allem in Zeiten der politischen Spannung, in Gesprächen nicht allzu oft auftauchen, nicht mehr als „Tabus an der Grenze der Obszönität“ gelten, wie es ein ägyptischer Publizist ausdrückte.

Die manichäische Haltung, die häufig Völker kennzeichnet, die miteinander im Krieg stehen, ist nicht mehr der Normalfall. Die „Bösen“ sind nicht mehr ausschließlich die Israelis. Diesbezüglich verdient das Theaterrepertoire dieser Saison Beachtung. Zumindest drei neue Stücke sind Satiren über das Verhalten der arabischen Politiker, vor allem im Lauf des Sechstagekrieges. Ein Stück hat besonderes Aufsehen erregt: „Watani Akka“ (Meine Heimat Akka) von Abdel Rahman El Charkoui stellt zum erstenmal drei von fünf Israelis positiv dar.

Zum erstenmal machte ein arabisches Stück aus Feinden „positive Helden“. Charkoui wurde heftig kritisiert, nicht weil er den Mut hatte, „gute“ Israelis darzustellen, sondern weil ihre Zahl in keinem repräsentativen Verhältnis zur Wirklichkeit stehe. Trotz der technischen Schwächen und politischen Naivität — die „Gewissenskonflikte“ und „Gewissensbisse“, die die Israelis bei Charkoui empfinden, dürften wohl äußerst selten sein — hatte das Stück im Ezbekieh-Theater, einem der größten Theater Kairos, großen Erfolg. Es stand mehrere Wochen auf dem Spielplan und wurde in den Buchhandlungen immer wieder verlangt.

Worauf ist diese Änderung des politischen Klimas zurückzuführen, weniger als drei Jahre nach einem Debakel, das die Bevölkerung so sehr gedemütigt und traumatisiert hat? Zum Teil zweifellos auf die ebenso subtile wie vorsichtige Propaganda der Regierung, die sich trotz aller Widersprüche und taktischen Stellungnahmen für eine „politische Lösung“ des Konflikts entschieden hat. „Watani Akka“ soll angeblich nur auf persönliche Intervention Nassers durch die Zensur gegangen sein. Am 19. Februar 1970 sagte Nasser in einem Interview mit „Le Monde“, es gebe „Anhänger eines gerechten Friedens“ in Israel.

Mehr noch als solche psychologische Aktionen hat die Entwicklung des Krieges in der Bevölkerung eine mühevolle Besinnung ausgelöst. Die Ägypter, die aus Tradition mißtrauisch gegenüber dem Staat sind, schenken ausländischen Radiostationen mehr Beachtung als einheimischen, vor allem der BBC in arabischer Sprache, desgleichen der Flüsterpropaganda mehr Beachtung als den offiziellen Kommuniqués. So erfuhren sie vom Ausmaß der Niederlage ihrer Armee und von der großen Zahl der Opfer (nach Schätzungen sollen seit dem 5. Juni 1967 an die 30.000 Ägypter umgekommen sein).

Den gründlichen Streifzügen der israelischen Luftwaffe ist es mit überraschender Leichtigkeit gelungen, den Großteil der öffentlichen Meinung davon zu überzeugen, daß eine „militärische Lösung“ des Konflikts zumindest ebenso auszuschließen ist wie eine Kapitulation, von der nach wie vor nicht die Rede ist. So ist es klar geworden, daß man mit den Israelis koexistieren muß, jedenfalls mit jenen, die auf „Rassismus“, „Kolonialismus“ und „Expansionismus“ verzichtet haben.

„Der Kampf ist allem Anschein nach ungleich“, sagte mir ein junger Lehrer, nachdem er gründlich die tieferen Ursachen des fehlenden Gleichgewichts der Kräfte analysiert hatte. „Wir fordern zweierlei von unseren politischen Führern: auf jeden Schlag zu antworten, das ist eine Frage der Würde, und auf keinen Zentimeter unseres Territoriums zu verzichten, koste es, was es wolle.“

Nach allgemeiner Ansicht ist diese Welle eines streng ägyptischen Patriotismus die Ursache dafür, daß Ende Jänner rund 500.000 Personen am Begräbnis eines Offiziers teilgenommen haben, der beim Angriff der Israelis auf die Insel Chadouan gefallen war.

Paradoxerweise war die gefühlsmäßige Bindung an das Niltal, der Wille, so bald wie möglich die Integrität des Landes wiederherzustellen, die Quelle für jene Kräfte, die für die Versöhnung eintraten. „Sie sollen uns Sinai zurückgeben, dann werden alle anderen Probleme gelöst sein“, hört man sehr oft. Selten ist von den anderen besetzten Gebieten in Jordanien und Syrien die Rede, obwohl man nicht daran zweifelt, daß auch diese Gebiete befreit werden müssen. Gegenüber der arabischen Welt scheint sich in der öffentlichen Meinung ein gewisser Isolationismus durchzusetzen. Sicher, man schätzt und respektiert die palästinensischen Truppen, aber ihr Kampf gilt nicht als der Kampf der VAR.

Die Gefühle gegenüber den anderen arabischen Staaten reichen von Gleichgültigkeit bis zu Mißtrauen. Im Unglück zeigt sich spontan ehrliche Solidarität, aber sobald zwischen Kairo und irgendeiner anderen Hauptstadt eines „Bruderlandes“ Meinungsverschiedenheiten auftauchen, ist der ägyptische Nationalismus stärker als alle anderen Überlegungen. Der Mann von der Straße weist unweigerlich auf die „Undankbarkeit“ der Syrer hin, die man zum Teil für die Krise verantwortlich macht, die zum Sechstagekrieg geführt hat, auf die Undankbarkeit der Algerier, die bei ihrem Unabhängigkeitskampf von Ägypten unterstützt worden waren, und auf die Undankbarkeit der Jemeniten, für die man „große Opfer“ brachte, als sie gegen die „Royalisten und deren saudiarabische Freunde“ kämpften usw.

Diese Einstellung erklärt vielleicht das Verhalten von Präsident Nasser seit der Konferenz der arabischen Staatschefs in Rabat, Dezember 1969. Sein wirklicher oder geheuchelter Zorn, der die Versammlung sprengte, wurde allgemein gutgeheißen. „Wir haben genug von denen, die, ein paar Tausend Kilometer von der Front entfernt, uns den Rat geben, eine friedliche Regelung abzulehnen, und die sich gleichzeitig weigern, ernsthafte Beiträge für den Krieg zu leisten“, ist der empörte Kommentar, den man diesbezüglich hörte.

Wenn der Raïs immer wieder seinen Willen zu einer „politischen Lösung“ unterstreicht, auch wenn er gleichzeitig erklärt, daß er nicht mehr daran glaubt, fordert er damit alle anderen arabischen Länder heraus — vom progressistischen Algerien bis zum konservativen Saudiarabien —, die sich aus Prinzip einer friedlichen Regelung widersetzen. Er schont nicht einmal mehr die sakrosankten palästinensischen Organisationen, deren Opposition er selbst, wie er mir sagte, „neutralisieren‘“ wolle. In seiner Rede vor der Interparlamentarischen Union, Anfang Februar 1970, enthielt er sich jeder Würdigung des Kampfes der Fedayin. In dem vorerwähnten Interview für „Le Monde“ vermied er es mehr als zweieinhalb Stunden lang, das Schlüsselwort „palästinensisches Volk“ auszusprechen und beschränkte sich darauf, für eine Lösung des „Flüchtlingsproblems“ einzutreten.

Der Eindruck, den ich von Präsident Nasser erhielt, ist der eines Mannes, der seiner selbst sicher ist und auf seine solide Position vertraut. Wenn man nach dem großartigen Empfang urteilt, der Nasser am 12. Februar in Kairo bereitet wurde, dann scheint er die Zuneigung eines Großteils seines Volkes zu genießen. Das Volk unterscheidet zwischen dem Regime und dem Mann, der dieses Regime etabliert hat: Nasser bleibt für das Volk weiterhin die „Inkarnation des nationalen Bewußtseins“.

Auf jeden Fall ist es ihm gelungen, die oppositionellen Gruppen zu zerstreuen, vor allem unter den Studenten, die zu Zehntausenden für die Dauer des Krieges eingezogen wurden.

Die „Linken“, die Anhänger eines Krieges à la Vietnam, verloren deutlich an Boden. „Hanoi weicht Brest-Litowsk“, sagte uns ein junger Professor, der im übrigen über die „beklagenswerte Entpolitisierung“ klagte, die er auf der Universität erlebt. Als er in seiner Vorlesung fragte, wer regelmäßig Zeitung lese, hoben vier von zweihundert die Hand.

Die mittleren Klassen auf dem Land und in der Stadt sind allem Anschein nach bestrebt, ihre neuen Privilegien zu bewahren, ja sie zu institutionalisieren — Ziele, die ein auswegloser Krieg nur gefährden kann.

Bleibt die Frage der Armee. Die Haltung der „großen Schweigerin“ ist vielen ein Rätsel. Die Führung der Armee teilt sich wahrscheinlich in „Tauben“ („Realisten“) und „Falken“ („Revanchisten“). Da genauere Informationen über das Kräfteverhältnis zwischen diesen beiden Strömungen fehlen, beschränken sich Beobachter in Kairo auf den Hinweis, daß Präsident Nasser seit ungefähr einem Jahr bei Gesprächen mit ausländischen Besuchern nichts mehr von seiner Sorge bezüglich der Loyalität seiner Truppen erwähnt. Man schließt daraus, daß er die Armee derzeit unter Kontrolle hat. Außerdem sorgen einige Tausend „Militärberater“ aus der Sowjetunion für die Sicherheit des Regimes.

Ist dies der Grund, warum Präsident Nasser zur Zeit eine elastischere Haltung einnimmt? Nasser erklärte im vorerwähnten Interview mit „Le Monde“, daß er bereit sei, zu einem „dauerhaften Frieden“, der auch diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen mit dem jüdischen Staat nicht ausschließe; nötig sei die Rückkehr der Palästinaflüchtlinge nach Israel; möglich sei ein Verzicht der VAR auf den Gazastreifen; ferner die Schaffung eines Status für Jerusalem als „vereinigte und für alle offene Stadt“. Damit schien der ägyptische Staatschef einen wichtigen Schritt auf dem Weg zum Kompromiß gemacht zu haben.

Bedingung ist für ihn die Verwirklichung der beiden UNO-Resolutionen, die für die Regierung in Jerusalem inakzeptabel bleiben: die Resolution über Räumung der eroberten Gebiete und das Recht der Flüchtlinge auf Repatriierung und Entschädigung.

Nasser ist der Meinung, daß eine „Normalisierung“ nur in Etappen erfolgen kann, ohne daß er diese Etappen näher definiert.

Unabhängig vom Wert, den man solchen Erklärungen zuschreibt, bleibt die Tatsache, daß sich diese Erklärungen deutlich von jenen unterscheiden, die bisher den mehr als 20 Jahre währenden Konflikt gezeichnet haben. Zum erstenmal erklärte sich ein arabischer Staatschef bereit, wenn auch unter bestimmten Bedingungen, den Staat Israel anzuerkennen.

Hoffnung auf Jerusalemer „Tauben“

Angesichts der allgemeinen Haitung in Israel in dieser Frage bleibt eines der wichtigsten Hindernisse zu einer wirklichen Entspannung die Weigerung Nassers, „Verhandlungen mit dem Okkupanten zu beginnen“ — ein Vorgang, der in seinen Augen unweigerlich zu einer „Kapitulation“ führen würde. Dieses Argument wäre überzeugender, wenn Nasser hinzufügen wollte, daß er seinen Widerstand gegen Verhandlungen dann einstellt, wenn Israel öffentlich erklärt, keine territorialen Ambitionen mehr zu haben.

Auf diesen Einwand erwidert man in Kairo, daß der ägyptische Staatschef „die Grenze der Konzessionen“ erreicht hat, die er vernünftigerweise gewähren kann, ohne seine Position zu gefährden. In der Überzeugung, daß gegenwärtig in Israel die Anhänger einer Annexion dominieren, ist er nicht bereit, vorzeitig mit den arabischen Staaten zu brechen, die das ägyptische Budget subventionieren, den Zorn der palästinensischen Befreiungsorganisationen herauszufordern und den Kampf gegen die Gegner einer friedlichen Lösung in der Armee und innerhalb der Bevölkerung aufzunehmen. Er weiß im vorhinein, daß die territorialen Forderungen, die die Israelis am Verhandlungstisch stellen werden, für ihn inakzeptabel sind.

Hingegen, so hört man, wäre alles möglich an dem Tag, an dem der jüdische Staat nicht mehr von „Falken“ regiert wird, denen die eroberten Territorien wichtiger sind als der Friede.

Es ist auf jeden Fall überraschend, wie sehr sich die Ägypter zur Zeit für das politische Leben in Israel interessieren. Wenn man als Ausländer nach Ägypten kommt, wird man oft mit Fragen über die Haltung der Gemäßigten in Israel überfallen, über ihre Chancen, an die Macht zu kommen, und über den Weg, den sie einschlagen würden, um zu einem Übereinkommen mit den arabischen Anhängern einer Versöhnung zu kommen.

Die ägyptischen Politiker bleiben jedoch pessimistisch. Sie glauben nicht an eine bevorstehende Änderung der Regierung in Israel, ebensowenig an eine spürbare Änderung in der Haltung der Vereinigten Staaten, die ihrer Meinung nach die „harte“ Strömung in Jerusalem verstärken und die Bemühungen der drei anderen Großmächte um eine Versöhnung zur Erfolglosigkeit verurteilen. Da ihnen ein „ehrenwerter Friede“ außer Reichweite und ein erfolgreicher Krieg unmöglich scheint, bleibt ihnen nichts als die Hoffnung, daß die Zeit für sie arbeiten wird.

Chronologie der Eskalation

  • 7. JÄNNER. — Erster Vorstoß der israelischen Luftwaffe auf ägyptisches Gebiet, Bombardement der Militärstützpunkte bei Heluan und Inchas, 30 Kilometer von Kairo.
  • 22. JÄNNER. — Eroberung und 36 Stunden lange Besetzung der Insel Schaduan.
  • 23. JÄNNER. — Präsident Nasser begibt sich heimlich nach Moskau und bittet um Verstärkung der militärischen Hilfe.
  • 28. JANNER. — Die israelische Luftwaffe bombardiert erstmals ägyptische Militärlager in unmittelbarer Nähe von Kairo.
  • 3. FEBRUAR. — In einer Botschaft an die USA, Großbritannien und Frankreich läßt Kossygin verlauten, daß die Sowjetunion ihre Militärhilfe für die arabischen Staaten intensivieren würde.
  • 12. FEBRUAR. — Die Bombardierung einer ägyptischen Fabrik in Abu-Zaabal fordert 70 Tote.
  • 16. FEBRUAR. — In einer offiziellen Erklärung der TASS-Agentur heißt es, daß „die Sowjetunion den arabischen Staaten die notwendige Hilfe gewähren wird, um deren Fähigkeit zur Verteidigung ihrer Sicherheit zu stärken“.
  • 19. FEBRUAR. — U Thant erklärt, daß Jarring seine Mission als Vermittler der UNO im Nahen Osten nicht wieder aufnehmen wird, „da es an einer ausreichenden Grundlage fehlt, diese Mission zu reaktivieren“.
  • 20. MÄRZ. — Nach einer Meldung der „New York Times“ hat die Sowjetunion mit der Lieferung von Sam-3-Raketen an die VAR begonnen.
  • 21. MÄRZ. — Präsident Nixon gibt den Entschluß der Vereinigten Staaten bekannt, „im Augenblick“ keine neuen „Phantom“ und „Skyhawk“ an Israel zu liefern.
  • 27. MÄRZ. — General Dayan erklärt, daß die Lieferung von Sam-3-Raketen an die VAR den Beginn der „Sowjetisierung“ der ägyptischen Kriegsmaschinerie bedeutet. Er betont, daß die Sowjetunion damit in der VAR die Infrastruktur schafft, die es den Sowjets ermöglichen wird, ihre eigenen Maschinen einzusetzen.
  • 30. MÄRZ. — General Bar Lev läßt verlauten, daß die Israelis Port-Said und Alexandrien bombardieren würden, falls dort Sam-3-Raketen installiert würden.
  • 6. APRIL. — General Dayan erklärt, daß Israel versuchen wird, jede direkte Konfrontation mit den sowjetischen Militärs in Ägypten soweit wie möglich zu vermeiden, Er versichert, daß sein Land unterscheiden wird zwischen der Front am Suezkanal und den Gebieten in Ägypten selbst, und gibt der Hoffnung Ausdruck, daß auch die Sowjetunion diese Unterscheidung treffen wird.
  • 8. APRIL. — 48 Stunden vor der Ankunft Minister Siskos in Kairo werden 30 ägyptische Schüler bei einer Bombardierung des Dorfes Bahr-El-Bagar, 30 Kilometer westlich des Suezkanals, getötet.
  • 13. APRIL. — Israelischer Angriff auf militärische Ziele 30 Kilometer vom Industriekomplex in Heluan. Es scheint, daß sich die Israelis nach diesem Vorstoß entschlossen haben, die Bombardements auf ägyptischem Territorium einzustellen.
  • 18. APRIL. — In einem Interview für die indische Zeitung „Blitz“ erklärt Präsident Nasser: „Wir haben unsere Verteidigungskraft zur Gänze wiederhergestellt und sind in der Lage, auf die israelischen Angriffe mit umfangreichen Gegenoffensiven zu reagieren.“ Beginn einer Reihe militärischer Luftangriffe Agyptens auf israelische Stellungen am Suezkanal.
  • 25. APRIL. — Bombardement der Gegend von El-Arish durch ägyptische Maschinen. Tiefster Vorstoß der Agypter seit dem 6-Tage-Krieg. Diese Luftoffensive wird begleitet von intensivem Einsatz ägyptischer Artillerie und mehreren Vorstößen gegen israelische Befestigungen am Ostufer des Suezkanals.
  • 29. APRIL. — Nach einem Kommuniqué aus Tel Aviv gab es auf seiten Israels 13 Tote und 37 Verwundete auf Grund des ägyptischen Bombardements am Suezkanal. Seit Beginn des Monats April wurden 25 israelische Soldaten getötet und 54 verwundet. Dies sind die höchsten israelischen Verluste seit Juli 1969.
  • 1. MAI. — Israel besetzt das libanesische Dorf Aita-Ech-Chaab.
  • 4. MAI. — Anschlag auf israelische Botschaft in Paraguay. Frau eines israelischen Botschaftsattachés wird erschossen.
  • 5. MAI. — Vierergespräche in New York.
  • 7. MAI. — Israelischer Generalstabschef warnt Libanon, Israel werde Vergeltungsmaßnahmen ergreifen, falls Feuerüberfälle vom libanesischen Gebiet aus nicht eingestellt werden.
  • 10. MAI. — Abba Eban erklärt, Israel sei zu territorialen Konzessionen bereit (Teil des Westufers des Jordans).
  • 12. MAI. — Angriff Israels auf Libanon im Gebiet des Hermon-Berges. Nach israelischen Meldungen 30 Tote und 15 gefangene Guerilleros.
  • 18. MAIL. — Im ägyptischen Hafen Ras Banas am Roten Meer werden zwei ägyptische Kriegsschiffe von der israelischen Luftwaffe zerstört. Vergeltungsschlag Israels für Zerstörung eines Fischkutters und Verminung des Hafens Ejlat.
  • 19. MAL. — Israelische Düsenjäger greifen ägyptische Stellungen am Suezkanal an.
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