FORVM, No. 197/II
Mai
1970

Reise durch Aegypten

Eric Rouleau, Nahostspezialist von „Le Monde“, unternahm seit dem Sechstagekrieg im Juni 1967 mehrere Reisen nach Israel und den arabischen Staaten. Seinen Bericht über Israel veröffentlichten wir 1969 (Eric Rouleau, Wenig Tauben in Israel, NF, Mitte November 1969, Sprünge in Davids Panzer, NF Dezember 1969). Nachfolgend sein Bericht über Ägypten.

I. Krieg ohne Anfang und Ende

Ein Hund heult zum Steinerweichen, der Schrei eines Raben macht das Schweigen noch unheimlicher. Eine Katze irrt auf den Abfällen umher, Möbeltrümmer, eine geköpfte Puppe, ein Kinderstiefel. Port Tewfik, früher Erholungs- und Badezentrum mit überfülltem Strand, wurde von der israelischen Artillerie und Luftwaffe so heftig bombardiert, daß die Einwohner die Stadt verließen. Port Tewfik existiert heute praktisch nicht mehr.

Wir gehen durch eine Welt des Chaos und der Zerstörung: Wohnhäuser, von denen nur noch die Fassaden stehen, Trümmerhaufen, die früher einmal elegante Villen waren, Ruinen früherer Kirchen und Moscheen, geplünderte Läden, Steinhaufen rechts und links von den schnurgeraden Hauptverkehrsstraßen. Der Polizeikommandant, der mich begleitet, fordert zu äußerster Vorsicht auf. Wir müssen auf Zehenspitzen vorwärtsschleichen, um jeden Lärm zu vermeiden, und überqueren die exponiertesten Kreuzungen im Laufschritt. Die israelischen Eliteschützen stehen nur 200 Meter von uns, wie man mir ständig versichert, am anderen Ufer des Kanals. Außerdem wird das Gebiet von Aufklärungsflugzeugen kontrolliert, deren Motorengeräusch man von Zeit zu Zeit hört, sie feuern auf alles, was sich bewegt.

Die Stadt scheint völlig verlassen. Aber hier und da sieht man den Helm eines Wachsoldaten oder Maschinengewehrschützen hinter einem Steinblock oder am Fenster eines verwüsteten Hauses. Eine kleine, unsichtbare, aber überall anwesende Garnison verteidigt diesen Vorposten der „Suezfront“.

Unmittelbar nach dem Juni 1967“, sagt mir der Kommandant, „verhöhnten uns die israelischen Soldaten, indem sie vor unseren Augen im Suezkanal badeten. Diese zusätzliche Demütigung war für uns unerträglich. Sie hatten nicht verstanden, daß wir zwar den Krieg, aber nicht jede Würde verloren hatten. Wir haben daher immer das Feuer eröffnet, wenn sie versuchten, aus dem Kanal einen Badeplatz zu machen.

Vom September 1967 an begann die israelische Armee Port Tewfik und die Schwesterstadt Suez zu bombardieren — zunächst als Erwiderung des ägyptischen Feuers, dann als Repressalie. Die Bombardements erfolgten ohne System, eher episodenhaft. Die Stadt Suez, die im 15. Jahrhundert gegründet wurde, ist heute zu 75 Prozent zerstört. Ihre früher blühende Industrie ist verschwunden.

Auch wenn sich ein paar hundert Bauern im Hinterland hartnäckig geweigert haben, das Land ihrer Väter zu verlassen (was den Volksdichter El Abnoudi zu rührenden Balladen inspirierte) — die Läden der Handwerker, die Hafenanlagen, die Fischereiunternehmen, die Düngerfabriken und die Raffinerie (die größte im Nahen Orient und in Afrika) haben jede Aktivität eingestellt.

Die Raffinerieanlagen, die sich über mehrere Kilometer erstrecken, sind nur noch ein Haufen von unförmigem Schrott und Kalkgruben. Aber die Bombardements haben noch nicht aufgehört. Zwei Tage vor unserem Aufenthalt haben israelische Flugzeuge ihre Bomben auf die Maschinen abgeworfen, die erst halb zerstört waren. Die Verwaltungsgebäude wurden dagegen verschont.

Der Leiter des Militärbüros der Region, Oberst Badr, versichert uns mit Nachdruck:

Wir setzen den Krieg fort, was immer er uns kostet, denn der Feind sucht nicht den Frieden, sondern unsere Kapitulation. Die Verluste, die er uns zugefügt hat, werden ihn einmal teuer zu stehen kommen. Port Said wurde zwar verschont, dank der Anwesenheit der sowjetischen Flotte, aber so gut wie alle Siedlungen längs des Suezkanals und des Golf von Suez wurden in einer Breite von 25 Kilometer praktisch dem Erdboden gleichgemacht.

Mein Gesprächspartner ist schweigsam, was die Zahl der Opfer betrifft. Man schätzt die Zahl der Zivilisten, die seit dem Ende des Sechstagekrieges am Suezkanal getötet wurden, auf mehrere Hundert. Mehr als 600.000 Personen haben sich auf der Flucht vor den Bombardements über das ganze Land verstreut, wo sie heute von der Regierung erhalten werden.

Ich habe eines der „evakuierten“ Zentren besucht, in Badrachin, ungefähr 30 Kilometer südlich von Kairo. Frühere Fischer, Beamte, Facharbeiter, Gewerbetreibende sind hier seit mehr als zwei Jahren arbeitslos. Unterkunft, Wasser und Elektrizität werden gratis geliefert. Außerdem zahlen die staatlichen Behörden je nach der finanziellen Situation monatlich zwischen sechs und zwölf Pfund (das sind zwischen 450 und 900 Schilling) an jede Familie.

Die Familien, denen es noch am besten geht, haben einen eigenen Raum, der größte mißt drei mal vier Meter. Meistens teilen zwei, manchmal drei Familien ein Zimmer miteinander. Kinder in Lumpen, bloßfüßig, mit Augen, die von Trachomen ausgehöhlt sind, lungern auf den Straßen herum, weil es in den Schulen keine Plätze für sie gibt.

Als diese Flüchtlinge Suez, Ismailia und Port Said verließen, konnten sie nicht ahnen, daß sie für länger fortbleiben würden. Die meisten hatten nur ihre persönlichen Dinge mitgenommen. Der Krieg, so glaubten sie, würde bald mit einem von den Großmächten ausgehandelten Kompromiß enden. Als ihnen klar wurde, daß ein friedliches Übereinkommen nicht möglich war, begannen sie zu hoffen, daß die ägyptische Armee, deren wachsende Stärke offiziell gepriesen wurde, die Besatzung zwingen könnte, sich hinter die Grenzen vom Juni 1967 zurückzuziehen. Bis in die letzten Monate war man, so scheint es, in der Öffentlichkeit hiervon überzeugt.

Diese Hoffnungen — oder retrospektiv: diese Illusionen — waren nicht völlig unbegründet. Es steht außer Zweifel, daß sich die Armee seit dem Debakel 1967 radikal geändert hat. Sie wurde von suspekten, korrupten, unfähigen Elementen gesäubert und steht heute unter der Führung von jüngeren und dynamischeren Offizieren, die ihrem Vaterland und Präsident Nasser ergeben und entschlossen sind, die Schande einer Niederlage zu beseitigen, für die sie sich persönlich nicht verantwortlich fühlen. Die Militärkaste, deren Unfähigkeit man nach der „Katastrophe“ anprangerte, scheint entmachtet zu sein; die Truppe ist disziplinierter, besser ausgerüstet und wird durch rund 3000 sowjetische Militärs trainiert und organisiert.

Kaum ein Jahr nach dem Debakel des Juni 1967 gelangte Präsident Nasser zu der Meinung, daß der formelle Waffenstillstand lange genug gedauert habe. Der ägyptische Informationsdienst wies ihn darauf hin, daß die Israelis in Sinai gewaltige Befestigungsanlagen errichten — die „Bar-Lev-Linie“ (nach General Bar-Lev, dem Chef des Generalstabs). Zahlreiche Hinweise schienen die These zu bestätigen, daß Jerusalem nicht daran denke, die besetzten Gebiete zu räumen, sondern im Gegenteil immer mehr Maßnahmen ergriff, um sich in diesen Gebieten für immer festzusetzen. Am 15. September 1968 kündigte der Rais an, daß die Phase des passiven Widerstandes nun vorbei sei. Seine Armee werde in Hinkunft die „präventive Verteidigung“ praktizieren, das heißt massive Gegenmaßnahmen, wie sie die sowjetischen Strategen seit dem letzten Weltkrieg schätzen.

Nachdem Nasser das Waffenstillstandsabkommen, das schon in den ersten Wochen beidseitig gebrochen worden war, für ungültig erklärt hatte, informierte er am 23. Juli 1969 sein Volk, daß von nun an ein „langer Abnützungskrieg“ notwendig sein werde, um die Okkupanten aus dem Land zu jagen.

Mit diesem kurzfristigen Übergang von einer Phase der Auseinandersetzung zur nächsten verfolgte der Raïs ein doppeltes Ziel, ein militärisches und ein politisches. Die Auswertung der neuen Dynamik in der Armee war dazu bestimmt, die wachsende Ungeduld der Öffentlichkeit, insbesondere die Ungeduld des Offizierskorps, zu besänftigen und damit die „Front nach innen“ zu stärken. Aber auch nach außen versprach diese neue Taktik größere Erfolge. Die Beunruhigung Israels, der Zwang, einen großen Teil des menschlichen, wirtschaftlichen und finanziellen Potentials Israels für den Krieg einzusetzen, die Zerstörung der israelischen Verteidigungslinie und gleichzeitig der Hoffnung, „die Waffenstillstandslinien in permanente Grenzen umzuwandeln“, die Erzeugung einer genügend großen Spannung, um die Großmächte zu zwingen, zugunsten Ägyptens einzugreifen: dies sollte das Ergebnis des „Abnützungskrieges“ sein.

Der Plan schien kein größeres Risiko zu enthalten. Die Armee der VAR sollte nur räumlich und zeitlich begrenzte Operationen vornehmen und jede allgemeine Konfrontation wie im Juni 1967 vermeiden, bei der Israel wieder als Sieger hervorgehen könnte. Da die neuen MIGs aus der Sowjetunion in panzergeschützten Bunkern versteckt oder auf entlegenen Flughäfen untergebracht worden waren (insbesondere im Sudan und in Libyen), riskierte die Luftwaffe nicht mehr, wie im Sechstagekrieg mit einem Schlag vernichtet zu werden. Sollten die Israelis jedoch eine Landoffensive starten (was im übrigen für höchst unwahrscheinlich gehalten wird), so würden mehr als 100.000 Mann und an die 400 Geschütze entlang des Suezkanals eine uneinehmbare Kampflinie bilden.

Diese scheinbar fehlerlose Rechnung sollte sich als falsch erweisen. Vom 31. Oktober 1968 an umgingen die israelischen Streitkräfte die ägyptischen Verteidigungspositionen und schlugen auf manchmal spektakuläre Art und Weise weiter südlich zu, mitten im oberen Ägypten oder an den Ufern des Roten Meeres.

Israel kann die Suezkanalfront nicht aufbrechen, folglich auch nicht den Zugang nach Kairo, das nur etwa 100 Kilometer entfernt liegt. Aber die israelischen Militärs rechneten mit der schlechten Kampfmoral der isolierten ägyptischen Garnisonen. Diese befinden sich meist in jämmerlich hilflosem Zustand.

Gegenmaßnahmen wurden ergriffen, bisher ohne Erfolg. Die völlige Umgruppierung der Führungsspitze nach der Landung einer israelischen Einheit in Zaafarane am 9. September 1969, die Hinrichtung von vier hohen Offizieren (eine Maßnahme, für die es in den Annalen der ägyptischen Armee keinen Präzedenzfall gibt) nach der Entführung einer Radarstation sowjetischer Herkunft am 26. Dezember 1969, haben nicht verhindert, daß die ägyptischen Truppen, die die Insel Chadouan verteidigten, am 22. Jänner 1970 vor den israelischen Streitkräften kapitulierten.

Die Artillerie und die Luftwaffe Israels begannen im September 1969 mit der systematischen Zerstörung der ägyptischen Radarstationen. Am 7. Jänner 1970 begannen die systematichen Luftangriffe auf Militärlager, Waffendepots, Raketenbasen am Stadtrand von Kairo, Damiette, Assiout und so weiter. Manche ägyptischen Politiker erfaßte Panikstimmung. Im Frühjahr 1969 wurden die Führer der Luftwaffe von Präsident Nasser mitten in einer Sitzung abgesetzt, als er erfuhr, daß zwei israelische Aufklärungsflugzeuge in großer Höhe über Kairo gesehen worden waren. Heute fliegen israelische Flugzeuge ungestraft beinahe im Tiefflug über der ägyptischen Hauptstadt.

Am 23. Jänner 1970, 24 Stunden nach Landung der Israelis in Chadouan, beschließt Nasser plötzlich, nach Moskau zu fahren. Unter größter Geheimhaltung verläßt er Kairo an Bord eines sowjetischen Militärflugzeuges, begleitet von seinem Kriegsminister, General Fawzi, Außenminister Mahmoud Riad und seinem treuen Propagandachef Hassan en Heykal, dem Chefredakteur von „Al Ahram“. Er will die Mißverständnisse zerstreuen, die die Beziehungen zwischen den beiden Staaten seit einigen Monaten abgekühlt hatten, und seine sowjetischen Freunde auf ihre Verantwortung hinweisen.

Seit Juli 1969 hatten die Russen, so scheint es, die Entscheidung des Raïs für den „Zermürbungskrieg“ mit ernsthaften Vorbehalten bedacht. Westliche Beobachter hatten den Abzug sowjetischer Berater aus der Suezkanalzone registriert. Der Kreml wollte allem Anschein nach nicht die Verantwortung für eine Initiative teilen, die er zumindest für verfrüht hielt. Die Moskauer Mission von Ali Sabri, damals Chef der einzigen ägyptischen Partei, der Sozialistischen Union Arabiens, endete mit einem Mißerfolg. Die Reise von Anour El Sadate, Vizepräsident der Republik, im Dezember 1969 war ebenfalls ziemlich enttäuschend.

Nasser hatte mehr Glück als seine beiden Emissäre und erreichte die formelle Zusicherung des Kremls, daß die Verteidigung des Niltales um jeden Preis gesichert werde.

„Die VAR ist ebensosehr, wenn nicht noch mehr als die ČSSR, von entscheidender Bedeutung für die Führung der UdSSR“, sagte mir ein ägyptischer Politiker. „Eine neue, größere Niederlage oder der Sturz des Nasser-Regimes würde den Zusammenbruch der sowjetischen Positionen in Afrika und im Nahen Osten bedeuten.“

Die führenden Politiker in Ägypten und, was noch wichtiger ist, eine wachsende Zahl von Offizieren sind sich bewußt, daß die Sowjetunion nicht bereit ist, ihnen die Mittel zu einem Offensivkrieg gegen Israel zu liefern. Dieses Ziel wäre in den nächsten Jahren auch nicht zu verwirklichen, wenn man das militärische Potential der VAR und Israels vergleicht. In dieser Situation ist Präsident Nasser der Ansicht, daß er keine andere Wahl hat, als den „Zermürbungskrieg“ fortzusetzen, wenngleich er damit riskiert, daß sich dieser Krieg endlos dahin zieht. In der Kraftprobe, die derzeit im Gange ist, kommt es für ihn darauf an, nicht als erster aufzugeben.

II. Glanz und Elend des Status quo

Noch immer staunen die Ägypter, wenn ein Fremder bei ihnen auftaucht. Ich befinde mich in der Hauptstadt eines Landes, das im Kriegszustand, teilweise besetzt ist und systematisch bombardiert wird. Theoretisch könnte Kairo, das nur an die hundert Kilometer von der Front entfernt liegt, binnen weniger Stunden von der israelischen Armee eingenommen werden, die auf Überraschungsangriffe spezialisiert ist. Trotzdem läßt das Verhalten der Bewohner kaum vermuten, daß sie sich in den gegenwärtigen Konflikt verwickelt fühlen.

Während man israelische Flugzeuge hört und manchmal auch sieht, die über den Vorstädten von Kairo fliegen und Bomben abwerfen, während die Kanonen der Luftabwehr ihre Granaten ausspucken und den azurblauen Himmel mit dunklen Flecken überziehen, geht die Bevölkerung unbeirrt ihrer normalen Beschäftigung nach. Die Stadt ist voll Leben, der Autoverkehr fast so stark wie zu normalen Zeiten. Nur selten bleibt jemand stehen und schaut zum Himmel, bevor er weitergeht.

Welcher Kontrast zum Kairo von früher, während des Sechstagekrieges und in den Monaten danach! Die Gespräche mit dem Mann von der Straße — in Kaffeehäusern, Autobus oder Tramway — drehen sich um alle Themen, nur nicht um den Krieg.

Zunächst ist man versucht, auf Apathie zu schließen, auf Indifferenz der Ägypter gegenüber einem Problem, das in alle Ewigkeit zu dauern scheint. Am Freitag, dem Tag der Woche, an dem nicht gearbeitet wird, füllen sich die Straßen der Hauptstadt mit einer bunten Menschenmenge; zahlreiche Familien flanieren am Ufer des Nils und sehen den Feluken zu, die über seine friedlichen Wasser ziehen. Üppige Frauen stürmen die großen Geschäftshäuser, die vollgestopft sind mit Waren, Studenten ziehen durch die Straßen und erfüllen sie mit ihrem lauten Lachen.

In Wirklichkeit ist es die neue Klasse, die der Hochbürokratie und der Bourgeoisie, die sich im Schatten der Staatsführung auf Kosten der übrigen Bevölkerung bereichert, die der Hauptstadt dieses trügerisch sorglose Bild verleiht. Die Privilegierten des Nasser-Regimes haben Geschmack gefunden am angenehmen Leben. Sie fahren luxuriöse Wagen, wohnen in eleganten Villen, wenn sie das Wochenende nicht in ihrer Zweitwohnung auf dem Lande verbringen. Sie besuchen Klubs, die in reinster britischer Tradition geführt werden, spielen Bridge, Golf, Tennis, reisen nach Europa, um sich und ihre Frauen bei den großen Couturiers einzukleiden, speisen bei Kerzenlicht am Fuß der Pyramiden, tanzen begeistert in den Diskotheken, die gerade en vogue sind.

Der Wohlstand dieser Klasse ist kein Zufall, so wenig wie das politische Desinteresse im Land. Die verantwortlichen Politiker geben offen zu: seit dem Sechstagekrieg wurde alles mögliche getan, um die Massen politisch einzuschläfern, damit sie ihr Schicksal mit Fassung tragen und so lang wie möglich den Status quo hinnehmen. Auf die Frage, ob sein Volk kampfwillig sei, antwortete Präsident Nasser vor einem Jahr: „Wir versuchen nicht, die Kampfmoral der Bevölkerung übermäßig zu stärken, denn dann würde sie auf uns einen Druck ausüben, der uns zu unvorsichtigen militärischen Aktionen zwingt“ („Times“, 16. Mai 1969).

Das Regime Nassers hat also eine wohlüberlegte Entscheidung getroffen. Es hat die Thesen der extremen Linken verworfen, die für Austerity und Kriegswirtschaft eintrat. Es hat sich in der Praxis für „Liberalismus“ entschieden, für eine Art NEP, die alle potentiellen oppositionellen Kräfte neutralisieren soll. Die „neue Klasse“ kann sich von nun an mit dem stillschweigenden Segen der offiziellen Stellen bereichern. Man schließt die Augen vor mehr oder weniger erlaubten, jedenfalls sehr wenig „sozialistischen“ Transaktionen.

Der Staat kontrolliert ein Drittel des Detailhandels, fast das ganze Bankwesen und den Großhandel, insbesondere Exporte und Importe, sowie 85 Prozent der Industrieproduktion. Der schmale Bereich der Privatwirtschaft genießt heute jedoch Erleichterungen, wie noch nie seit der ersten Verstaatlichungswelle 1961. Die Privatwirtschaft exportierte 1968/69 im Wert von 20 Millionen ägyptischer Pfund (1,5 Milliarden Schilling), das heißt fünfmal soviel wie 1965/66.

Unmittelbar nach dem Krieg im Juni 1967 wurde der Import von Produktionsgütern rigoros eingeschränkt zugunsten von Konsumgütern, insbesondere Lebensmitteln, wofür 1969 ein Viertel aller verfügbaren Devisen verwendet wurde. Außerdem gibt es heute jene Luxusartikel, die früher nur auf dem schwarzen Markt gehandelt wurden, in den staatlichen Geschäften zu kaufen. Mit ausländischen Devisen erhält man diese Waren ohne Herkunftsangabe.

Die Importzölle auf Autos ausländischer Herkunft wurden von 180 auf 80 Prozent gesenkt. Jeder kann aus dem Ausland in Form eines „Geschenks“ ein Automobil oder einen anderen Wertgegenstand erwerben.

Dies fördert indirekt die unerlaubte Kapitalausfuhr. „Unsere Währung ist die härteste der Welt“, sagen die Ägypter, wenn sie einen Scherz machen wollen. „Der Beweis hierfür ist, daß manche mit fünf Pfund (ungefähr 375 Schilling) das Land verlassen und damit nicht nur einen Monat Urlaub in Europa machen, sondern auch noch einen neuen Mercedes kaufen.“

Die Konzessionen an die Bourgeoisie schließen nicht aus, daß die Masse des Volkes gleichfalls Konzessionen erhält. Die Lebenshaltungskosten sind trotz der Preissteigerungen bei einigen Grundnahrungsmitteln (vor allem Tee und Fleisch) stabil geblieben. Die Löhne der Beschäftigten im öffentlichen Bereich sind gestiegen, und der Staat zahlt den Bauern erheblich höhere Preise für Produkte, deren Absatz im Ausland er übernimmt.

Am Ende der dritten Agrarreform, die im Juli 1969 vorgenommen wurde, werden mehrere Tausend Landarbeiter Eigentum an Grund und Boden erwerben. Das Höchstausmaß an Landbesitz wurde von 100 auf 50 Feddans pro Person gesetzt (das sind etwa 21 Hektar) und auf 100 Feddans insgesamt pro Familie.

Es stimmt, daß die breite Masse des Volkes den Großteil der zusätzlichen Steuerlasten trägt (die seit Kriegsende um rund 20 Prozent erhöht wurden), und dies hauptsächlich auf dem Weg der indirekten Steuern.

Das Erstaunlichste ist, daß der ägyptischen Wirtschaft trotz der Liberalisierungsmaßnahmen und trotz eines wirtschaftlichen Führungsstils, der für ein unterentwickeltes Land, das sich weiterhin auf den Sozialismus beruft, kaum orthodox sozialistisch ist, ein spektakulärer Wiederaufbau gelungen ist. Der Krieg im Juni 1967 hatte das Land um wichtige Devisenquellen gebracht, um den Suezkanal, um die Ölfelder in Sinai (die damals zwei Drittel der Ölproduktion der VAR lieferten) und um den Tourismus, das heißt insgesamt um rund 200 Millionen Pfund (rund 15 Milliarden Schilling). Die Konsequenzen dieser Verluste hätten für die Finanzen des Landes und für seine Entwicklungskapazität katastrophal sein können.

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